Woke Wattebettchen

Sonntag. Bizarre Zwänge, mit denen sogenannte Woke sich selbst und die Gesellschaft belegen. So bereichernd ihre Anstöße in der Rassismusdebatte sind, so horizontverengend nehmen sich ihre Ausschließlichkeit beanspruchenden Einlassungen in anderen kulturpolitischen Fragen aus.
Politische Bewusstwerdung heißt für mich, unabhängig zu sein: Unabhängig von jeglichen Autoritäten mit ihren Vorschriften und Regelwerken, unabhängig von gesellschaftlichen und ökonomischen Machtstrukturen. Und auf der anderen Seite emanzipiert, sprich stark/eigenständig/widerstandsfähig genug, um auf das, was einem an Abhängigkeit, Repression und Gewalt zwangsläufig begegnet, mit selbst-bewusster Frauenpower zu reagieren – ein lebenslanger Prozess.
Letzteres scheint gerade irgendwie kein Thema mehr zu sein. Man/frau zeigt lieber mit dem Finger auf andere und nimmt sich selbst aus der Verantwortung. Statt wehrhaft zurückzuschlagen, wenn einer einem blöd kommt, bastelt man/frau lieber an Wattebettchen für alle. Bloß keine Anfechtungen! Weg mit allem, was auf den ersten Blick zweifelhaft erscheint. Weil zweiter Blick könnte crazy kompliziert werden.
Was ist gesellschaftlich von einer Generation Rührmichnichtan zu erwarten, die schon im Vorfeld heult und so schrecklich verstört ist – wovon eigentlich?
Anlässlich einer Ausstellung, die ich vor ca. fünf Jahren mit einer Lerngruppe besuchte, vernahm ich es zum ersten Mal, dieses meist im Partizip Präsens verwendete Lieblingswörtchen aller Hochsensiblen: Als verstörend empfanden die 18-jährigen Jungs und Mädels die mit den Geschlechtern spielenden menschlichen Abbildungen der Künstlerin, deren Namen ich leider vergessen habe.
Ich war darob meinerseits verstört: Jugendliche, die mit krassesten YouTube-Videos aufwachsen, lassen sich angesichts von Kunst dermaßen erschüttern? Moralisch erschüttern? Warum? Warum knicken sie bei der kleinsten emotionalen Zumutung ein? Warum reizt es sie nicht vielmehr, Verstörendes, Zweifelhaftes zu bewältigen? Sich dagegen – oder dafür – zu positionieren, anstatt es ritscheratsch zu canceln?
An britischen Universitäten ist es üblich geworden, Anglistik-Student*innen vor Klassikern wie Charlotte Brontes Jane Eyre oder Charles Dickens’ Große Erwartungen zu warnen. Die Universität Salford macht darauf aufmerksam, dass die Texte “Szenen und Diskussionen über Gewalt und sexuelle Gewalt” enthalten, deren Inhalt als verstörend empfunden werden könnte. Die Universität Aberdeen hat ähnliche Warnungen vor emotional “schwierigen Texten” ausgegeben: Shakespears Julius Cäsar drehe sich um Mord und enthalte sexistische Einstellungen. Empfindsame Studierende können sich auf einer Website informieren. Die Warnhinweise sollen garantieren, dass sie “sich mit ihren Büchern sicher fühlen”. Bei Jane Austens Stolz und Vorurteil wird auf Klassismus und Sexismus hingewiesen, bei Emma auf Antiziganismus und Alkoholkonsum. Bei Verstand und Gefühl gar auf Betrug, Depression und “für die damalige Zeit typischen” Formen von Rassismus und Sexismus. (FAZ-Feuilleton 11.01.22)
Ja!, exakt das waren Austens Themen! Gut, sie hätte auch über Blumen oder Insekten schreiben können, wie es sich für schriftstellernde Damen des ausgehenden 18. Jahrhunderts geziemte, aber sie war ihrer Zeit voraus und wagte sich als ungewöhnlich eigenständige Denkerin an die großen gesellschaftlichen Themen heran, mit denen sie und ihre Familie ganz konkret konfrontiert waren.
Weshalb sie eigentlich nur über ein Thema schrieb: Emanzipation! Hier sog. Triggerwarnungen auszusprechen, wodurch die genannten Werke möglicherweise geframt werden, ist absurd. Und kontraproduktiv.
Literatur und jegliche Kunst überhaupt hat die Aufgabe, menschliche Abgründe auszuleuchten, sie in all ihren Schattierungen, Reizen und Gefahren künstlerisch auszuformen. Darin liegt die eigentliche Triebfeder von Kunst (Susan Sontag). Gesellschaftlich evozierte Probleme wie Gewalt, Alkoholismus etc. zu thematisieren, heißt nicht, sie zu verherrlichen. Es heißt vielmehr – auch für nachfolgende Lesenden-Generationen -, sie zu erkennen, damit umgehen zu lernen und sich gegebenenfalls davor zu schützen – oder eben in einem emanzipatorischen Bewusstseinsakt auch nicht!
Kunst, insbesondere die Literatur, trägt damit zur Reifung und sogar Lebensausrichtung ihrer Rezipient*innen bei – wer wollte davor warnen? Müsste dann nicht zuallererst vor der Bibel gewarnt werden? Überaus schräge Verwandtschaftsbeziehungen, Gewalt zwischen den Völkern, Könige, die Frauen verschleppen oder denen Frauen ins Bett gelegt werden, um sie dem nahenden Alterstod zu entreißen … ach, und die Pestkranken im Neuen Testament, diese ganze gräuliche Kreuzigungsszene – ziemlich eklig, sorry, verstörend.
Ganz nebenbei, sollten Studierende auch ohne Warnhinweise in der Lage sein, Literatur in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu interpretieren, das haben sie nämlich seit der 7. Klasse im Umgang mit Schullektüren gelernt.
Wie der woke Drohfinger Kunst direkt in die Sackgasse führt, führt m.E. der kontrovers diskutierte Roman Schöne Welt, wo bist du von Sally Rooney vor. Zunächst einmal ist er einfach nur ziemlich langweilig. Bei genauerer Betrachtung ist er ein Propagandastück für woke Sexualität (Darf ich dich küssen? – Ja. – Er küsste sie. Darf ich dir …) Das Gegenteil von selbstbestimmter, heißer Sexualität. Was Rooney hier unbeabsichtigt offenlegt: an einem in Watte gepackten Leben und Schreiben, Fühlen und Vögeln ist nichts gut.
Selbsternannte Erwachte – Wachttumgesellschaft? Deutschland erwache? – haben schon immer mein tiefes Misstrauen erweckt.
Woke können nämlich verdammt totalitär sein.

 

FAZ-Feuilleton 11.01.22
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