Mittwoch. L. wartet vorne auf mich. Lächelt vorsichtig und sagt: Ich bin heute pünktlich.
Ich freue mich, dass du da bist, erwidere ich und freue mich wirklich. L. kommt in der Regel eine Stunde zu spät oder gar nicht. Wenn er dann da ist, sackt er in sich zusammen und hängt wie ein Schluck Wasser in seinem Stuhl. Er kann nicht anders. Seine Körperhaltung drückt die Überforderung aus, die ihn Tag für Tag erwartet.
In letzter Zeit habe ich mich oft neben ihn gesetzt und die Aufgaben mit ihm zusammen gemacht. In seiner Muttersprache kann er nicht schreiben, auf Deutsch wenig schreiben und sprechen, Englisch gar nicht. Was von diesen Kindern bzw. Jugendlichen erwartet wird, ist unermesslich. Es ist eigentlich kaum zu erfüllen.
Ich freue mich, dass er es heute geschafft hat früh aufzustehen. Er ist stolz darauf, er möchte, dass ich es merke. Und ich bin stolz auf ihn. Solche Momente entschädigen mich für viele, viele Frustmomente. Und halten mich bei der Stange, wenn ich wieder mal daran denke hinzuschmeißen und einfach nach Hause zu gehen.
Aber dann sagt M. mitten im Unterricht: Ich hasse meinen Vater! Und erzählt eine Geschichte, wie ich sie bisher nur aus dem Fernsehen kenne. Doch hier sitzt sie in Gestalt einer bezaubernden 11-Jährigen ganz real vor mir, und die anderen nicken bloß und erzählen plötzlich von ihren verhassten Elternteilen oder Großeltern, die sie schlagen und würgen und schließlich verlassen (und dennoch werden sie so schmerzlich vermisst!).
Das scheint jetzt meine Aufgabe zu sein, auf solche Geschichten zu reagieren. Und “nebenher” zu unterrichten. Ich habe mir das nicht vorstellen können: So viele verletzte, wunderbare, feinfühlige Kinder auf einen Schlag, von ihren nächsten Angehörigen einfach abgeschoben.
Erwachsene sind so blöd, sagt M.
Einer von meinen Langzeitarbeitslosen, ich nenne ihn Mike, hat es gestern differenzierter formuliert: Erwachsene sind dumm und grausam, und Kinder sind ganz rein.
So was sagen sie, solche Sätze hauen sie raus über ihre harten Leben. Mike ist nach mehreren Runden in der 6. Klasse rausgeflogen, seitdem schlägt er sich alleine durch. Sieben (!) Vorderzähne hat er dabei verloren, ein Besoffener hat sie ihm mit 12 Jahren ausgeschlagen.
“Ich habe ein Knie gefressen”, sagt er lapidar. Jetzt ist er 24, hat sich seine Lebensweisheiten angelesen und ist einer, der vollkommen auf sich gestellt ist. Ich meine, alles was er ist, ist er aus sich heraus, ohne Anleitung, ohne gelebte Vorbilder. Vor solchen Lebensleistungen habe ich den allerhöchsten Respekt.
Ach, von ihm und seinen Geschichten, die im Kreativen Schreiben entstehen, muss ich mal genauer berichten. Wie er mich beobachtet, wenn er sie mir zu lesen gibt … um dann klarzustellen: Die ist echt.
Ja, Mike. Das hatte ich befürchtet.