Mind Changing

Donnerstag. Heute ist Jahrestag der Ahrflutkatastrophe.
Es war ein Mittwoch, genauer: die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Diese Nacht ist allen Betroffenen in die Seele gestempelt. PM hadert sehr, die Erinnerungen werden jetzt zum Einjährigen auch durch die vermehrten Berichterstattungen wachgerüttelt.
Erstaunlich: Die Stimmen der Dokus werden immer deutlicher. Alles, was bisher nur hinter vorgehaltener Hand weitergeflüstert wurde, wird jetzt offen und vor allem öffentlich ausgesprochen – zum Beispiel, dass Landrat Pföhler zuerst mal seinen Porsche in Sicherheit brachte, anstatt in der Kreisverwaltung zu erscheinen. Zum Beispiel, dass er dann zwar doch dort erschien, aber nur für das Pressefoto zusammen mit Innenminister Roger Lewentz, um sofort danach wieder zu verschwinden. Wohin? Und warum löste er keinen Katastrophenfall aus? Obwohl die Meteorologen rechtzeitig gewarnt hatten? Obwohl seine Amtsnachfolgerin Cornelia Weigand ihn mehrfach aufgefordert hatte? Dazu schweigt er vor dem Untersuchungsausschuss beharrlich – und wild entschlossen zu retten, was von seinem armseligen Landratsdasein noch zu retten ist.
Ein Feigling bis zum Schluss …
Während die Betroffenen in der Was-wäre-wenn-Schleife festhängen: Was wäre, wenn ich nur eine, zwei Stunden vorher Bescheid gewusst hätte? Kinder, Eltern, Nachbarn wären noch in Sicherheit gebracht worden. Die wichtigsten Dokumente, Erinnerungs- und Wertsachen etc. hätten noch rausgeholt werden können.
PM hat 12 Stunden in Todesangst um sich und, viel schlimmer, um seinen Sohn durchlebt. Er hat alles verloren. Alles, was sein Leben bis dahin hervorgebracht, alles, was dieses Leben augenscheinlich dokumentiert hat. Diese Nacht wird er nie wieder vergessen. So wie meine Mutter die Bombennächte in Berlin niemals vergisst oder den nächtlichen Marsch aus dem kaputtgebombten Berlin mit einem bepackten Fahrrad und einem Rucksack auf den Schultern.
Die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2022 markiert für alle Betroffenen ein Mind Changing. Auch für uns und unsere Beziehung hat die Ahr-Katastrophe viel verändert. Ich hatte manchmal Angst, dass wir es nicht schaffen. Und ich finde uns ziemlich toll, dass wir es geschafft haben.
Die äußeren Bedingungen haben sich zu 100 Prozent verändert. Und auch innerlich hat sich aufgrund dieser Extremerfahrung vieles verschoben, vor allem bei PM. Vielleicht ist der heutige Jahrestag und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit gar nicht so schlecht. Man wird dadurch gezwungen, sich zu verhalten: Sich selbst im Kontext mit dem Geschehen noch einmal zu reflektieren.
PM hat in diesem einen Jahr nicht nur alles verloren, sondern auch unglaublich viel aufgebaut. Hat sich Hilfen gesucht, wo es alleine nicht ging. Hat ein neues Zuhause aus dem Boden gestampft. Hat sein bisheriges Verhältnis zu Geld und Eigentum über Bord geworfen (wollte doch nie Hausbesitzer sein). Er ist ständig über seinen Schatten gesprungen.
Und zusätzlich zu dem Ganzen hat er mit sehr liebevollem Einsatz eine wunderschöne Beerdigungsfeier für seinen Bruder auf die Beine gestellt, der im Oktober 2021 starb – von allen Verlusten wohl der schlimmste. Hat dessen Angelegenheiten in Berlin zu seinen eigenen gemacht: Wohnung aufgelöst, Verträge gekündigt …, was eben an Unangenehmem und Belastendem für die Angehörigen so zurückbleibt.
Das vergangene Jahr hat nicht nur viel mit PM gemacht, sondern er hat viel gemacht. Wie Tausende andere Menschen im Ahrtal hat er sich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus dem Schlamm und Schutt herausgezogen. Er hat sich neu definiert. Und damit seinen Kindern gezeigt, dass es weitergeht. Dass man auch die schlimmsten Ereignisse nicht nur irgendwie durchstehen, sondern sie verwandeln kann.
PM ist ein Flutopfer. Aber er ist nicht stehengeblieben. Er hat sich die Flut anverwandelt. Er hat nicht etwas mit sich geschehen lassen, sondern er hat geschehen lassen. Ich finde, dass er sich heute, am Jahrestag, feiern darf, dass wir uns – bei allem traurigen / fassungslosen Rückblick – heute mal feiern dürfen.
Ich werde an diesem Donnerstag, neben Notenkonferenzen und Korrekturen und dem ganzen anstehenden Amts-Kleinklein, ihm und uns in meinen Gedanken einen gebührenden Platz freiräumen und auf uns, eine Entfernung von 300 km überspringend, mit einem zweifachen Limoncello anstoßen!