Leben leben

Mittwoch. Neben Online- und Präsenzbeschallung und zäher Heimplatzsuche finde ich nun seit Ostern jeden Tag bzw. jede Nacht ein bis zwei Stunden, um an meinem neuen Buchprojekt weiterzuarbeiten.
Hart erkämpfte Anderswelt: was sonst ist der tiefere Sinn vom Schreiben, als dass du dich für einen begrenzten Zeitraum rausnimmst und dich erhebst über die atemberaubende Belanglosigkeit, um die dein Leben zu kreisen und es vollzumüllen droht und dich abhält vom Eigentlichen. Das Schreiben relativiert den ganzen Scheiß, den Stress und Schrott wie ein Glas Cointreau, derselbe Effekt, nur ohne Kopfschmerzen. Die viel zu vielen Eindrücke beginnen sich zu ordnen, Scharten und Unebenheiten füllen sich mit mildem Grund …
Ich tauche ein in das Leben einer bisher fremden Person, ich höre ihre Stimme vom Band, den Tonus, der die schriftliche Vorlage ergänzt, finde Fragen und Erklärungen, werde immer neugieriger auf eine Biografie von der anderen Seite der Weltkugel. Messenger-Austausche zwischen New York und Tübingen bebildern und colorieren die noch schemenhafte Vorstellung: Da sitzt eine lebenspralle, über achtzigjährige Holocaust-Überlebende an ihrem Laptop und vergeudet keine Sekunde ihres kostbaren Lebens.
Ich bin glücklich, auch wenn es morgens um vier ist, das ist mir egal. Andere schweißen im Keller Skulpturen oder gehen in den Schrebergarten. Ich schreibe.