People in the Sun

Sie sieht aus wie Maike, auch wenn ich ihr Gesicht nicht sehen kann. Dieselben schulterlangen Haare, derselbe Gelbton. Und ihr Arm. Maikes schlanke Arme, stundenlang kann sie so sitzen, ohne sich zu regen. Sich aufzuregen. Die Füße nebeneinander auf dem Boden. Maike achtet auf eine gesunde Fußstellung und einen geraden Rücken.
Maike ist 800 km weit weg. Und überhaupt, sie ist nicht mehr da. Für mich. Dass sie mir bis hierher folgen würde. Das verblüfft mich nun doch einigermaßen. Der erste Tag ist wahrscheinlich der schwierigste. Man muss sich erst eingewöhnen. Sagen hier alle: Erstmal ankommen. Die Speisekarte recht vielversprechend. Ich werde heute Abend eine Rinderroulade essen. Dazu Bratkartoffeln und eine dicke, braune Soße. Ich habe sofort gewusst, es wird die Roulade. Gesehen und entschieden. Maike sagt oft: Hast Du’s bald? Ich stelle mir ihr Gesicht vor, spüre meine Mundwinkel zucken. Zack, nicht lange rumüberlegt. Maike, die Vegetarierin, die Fett- und Kohlehydrateverächterin, kann nicht einschreiten. Maike schreitet gern ein, aber mir macht das nichts aus. Sie hat meistens Recht, das muss ich zugeben. Man will ja keinen Herzinfarkt mit 40. Maike wird sicher 100. Oder 98. Wenn es so weit ist. Maike plant, die Erde bewusst zu verlassen. Wenn ich jetzt wieder auf Fleisch umsteige, ist mein Ausgang offen. Eine Rundumverjüngungskur verspricht die Webseite. Ein Jungbrunnen mit Fleisch und Bratkartoffeln. Seltsam.
Interessant durchaus. 

Hier setzt man auf Luft. Höhenluft. Auf Ruhe. Gemeinsames Schweigen. Die vor mir packt das nicht. Die ist nicht Maikes Kaliber. Jede Wette, die will was loswerden, die hat eine Story auf Lager, ihre Absätze scharren über den glatten Beton wie Reptilien, die kriegen wir heute noch zu hören, ihre Geschichte. Pikantes über Schnauzbart, vielleicht. Die beiden sind ein Paar. Ganz klar. Diese flatternde Kälte zwischen ihnen, die verrät sie. War Schnauzbart auf Abwegen? Oder sie? Hat er sie enttäuscht? Gelangweilt? Erschreckt? Hat Schnauzbart dunkle Leidenschaften? Ihr roter Schal bewegt sich ganz leicht. Nicht im Wind, es gibt keinen Wind. Weil sie sich bewegt. Ihre starre Haltung ist voller Unruhe. Wie lange hält sie noch durch? Schnauzbart tut auch nur so als ob. Nur der Typ vorne liegt so echt in seinem Kissen, dass ich vor Neid auf einmal ganz schwach werde.
Einmal so ruhen können. Auf die anderen pfeifen.
Sich selbst genug sein. 

People in the Sun, Edward Hopper (1960) Kreative Schreibaufgabe: Vom Bild zum Text