Träume sind keine Schäume

Donnerstag, Kiel. Nachdem die Ahrtalflut unseren Plan, in Ahrweiler zusammenzuziehen, mit einem Schlag durchkreuzt hat, fragt mich PM: „Was hältst du von Eisenach?“
Ich bin mit der Stadt seiner Kindheit sofort einverstanden.
Die Arbeitsstelle kann ich mir aussuchen. Meine Wahl fällt auf eine staatliche Regelschule – Neuland für mich, die ich vom Gymnasium herkomme. Als wir, meine beiden Hauptschulklassen und ich, uns am 21. August 2023 zum ersten Mal gegenüberstehen, mustern sie eingeschüchtert oder genervt ihre neue Lehrkraft und denken sich ihren Teil.
Ich mir auch. Widerstand hat mich schon immer zu ganz neuen, individuellen Zugängen herausgefordert. Etwa die Hälfte der Mädchen und Jungen spricht nur gebrochen, manche gar kein Deutsch. Ein Jahr zuvor hatte ich mit ukrainischen Jugendlichen eine deutsch-ukrainische Schreibwerkstatt geleitet – ein literarisches Integrations-Experiment. Auch die ukrainischen Kinder sprachen kaum Deutsch und hatten große Vorbehalte gegen unsere Schrift. Also ließ ich sie auf Ukrainisch bzw. Russisch schreiben. Die Technik löste unser Übersetzungsproblem. Als sie auf einer öffentlichen Lesung in der Stuttgarter Stadtbibliothek begeisterten Applaus für ihre zunächst in Muttersprache vorgetragenen Texte empfingen, spiegelten ihre Gesichter den Stolz auf diesen Erfolg.
So etwas schwebt mir jetzt auch wieder vor. Natürlich ist eine Schulklasse etwas anderes als eine Creative-Writing-AG. Doch trotz anfangs heftiger Proteste, die von ungläubigem Gelächter bis Türenknallen reichten, habe ich schon nach einer Woche von insgesamt 40 Schülerinnen und Schülern 32 Texte beisammen. Bereitwillig lesen sie vor, überraschen mit ihren Miniatur-Innenansichten ihre Mitschüler und mich und vor allem – sich selbst.
Lena (Name geändert) weigert sich konsequent überhaupt loszulegen. Immer wieder speist sie mich mit neuen absurden Ausreden ab, bis sie mir eines Tages am Ende der Stunde ein Blatt auf den Tisch knallt. „Hier, für Sie“, faucht sie, dreht sich auf dem Absatz um und rauschte zur Tür raus.
Ihr Text ist so anrührend, dass er mir fast die Tränen in die Augen treibt. Nicht nur, dass sie die Aufgabe verstanden hat – sie hat ihr Herz weit geöffnet.
Seit ich Hauptschulklassen unterrichte, fühle ich mich nicht selten in das Filmset von Fack Ju Göhte versetzt. Ich erkenne eine Chantal wieder, eine Zeynep und einen Daniel. Doch während ‚meine‘ Zeynep sich die Nägel manikürt und ihre verrutschten Wimpern wieder festklebt, produziert sie göttliche Texte über ihren geliebten Rollladen, der sie ausschlafen lässt. Darauf muss man kommen!
Eine Frau, die schreibt, brauche 500 Pfund im Jahr und ein abschließbares Zimmer, postuliert Virginia Woolf 1929 in ihrem weltberühmten feministischen Essay Ein Zimmer für sich allein.
Ich stelle diese These zur Diskussion. Viele meiner Schülerinnen und Schüler haben kein eigenes Zimmer. Dass sie trotzdem schreiben und ihre Hausaufgaben machen, finde ich bemerkenswert. Ich selbst habe seit dem Sommer ein Zimmer mit Aussicht auf die Wartburg. Und wenn ich mal genug habe, dann gibt es auch noch mein Zimmer in Tübingen. Für diesen Luxus arbeite ich – in begrenztem und selbstbestimmtem Umfang: für meine beiden Zimmer zum Schreiben.
„Sind Sie Lehrerin?“ fragt ‚meine‘ Zeynep mich eines Tages entgeistert. Ich bin über die Frage nicht weniger entgeistert. „Wir dachten, Sie sind Therapeutin“, klärt sie mich auf, „weil Sie immer so fragen, wie es uns geht und was der Text mit uns macht.“
Den Zugang übers Schreiben, über den emotionalen Bezug zu Texten, kennen sie offenbar nicht. Ich fühle mich sehr frei in meiner Unterrichtsgestaltung. Ich arbeite jetzt mit halbem Deputat, wodurch mir ungewohnt viel Zeit zum Schreiben bleibt. Die Arbeit fällt mir leicht, sie ist auf ihre besondere Weise kreativ, was auch meinem eigenen Schreibprozess zugutekommt – eine Win-Win-Situation auf allen Ebenen.
Inzwischen haben wir uns aneinander gewöhnt. Rahman klappt nicht mehr seine Augenlider um, wenn er mich mit Grinseface ansieht (ein grässlicher Anblick!), Enis mampft keine Nudelgerichte mehr während des Unterrichts. Laut sind sie immer noch, aber dazwischen fällt auch mal ein echt lustiger Witz, oder das Lächeln über ein unerwartetes Lob erhellt wie ein Sonnenstrahl das Klassenzimmer.
„Freunde!“ flötet Lanika mir ins Ohr und stützt sich mit dem Ellenbogen auf meiner Schulter ab. Die fehlende Distanz muss ich gelegentlich wiederherstellen. Immer wieder rücke ich die unterschiedlichen Sprachebenen in ihr Bewusstsein, wenn mich wieder jemand mit „Ey Digga“ anredet, mich duzt oder ich ihr sexualisiertes Vokabular nicht länger überhören mag. Wenn sie trotzdem mal wieder „Scheiße“, „Fi“ … und „Fo“ … raushauen und mich von der Seite anschielen, dann weiß ich, dass sie es kapiert haben. Das ist schon viel.
Keiner von ihnen ist dumm. Derlei Zuschreibungen habe ich mich immer verweigert. Sie sind aggressiv, weil sie schlecht Deutsch sprechen, sie fühlen sich als Loser, und hinter der derben und prolligen Fassade sitzen die Tränen oft locker. Sie weinen aus Wut. Und sie freuen sich, wenn plötzlich was klappt.
Ich versuche sie für die Idee einer gemeinsamen Anthologie zu begeistern. Auf ihre Freude, wenn sie sie in den Händen halten, freue ich mich schon jetzt. Ganz einfach, weil sie gut sind.
Und weil es mir Spaß macht. Ich glaube, mir gelingt endlich das, wovon ich so lange geträumt habe: Die Vereinigung von Kunst und Brotberuf.