Generationenschuld

Weihnachten ist ein Fest der familiären – der mütterlichen – Bilanz.
Gestern sagt meine Mutter mir am Telefon, sie sei als Kind immer überflüssig gewesen. Ihre Mutter habe sie nicht gebrauchen können. Ich frage, wieso, und ob ihre Mutter lieber malen wollte? Meine Oma war die Postkarten-, Portrait- und Porzellanmalerin Olga von Alt-Stutterheim, Schwester des Trickfilmers Wolfgang Kaskeline, der solche Sachen wie den Sarotti-Mohr und die Fleurop-Blume hervorgebracht hat. Auch ich sehe meine Oma immer malend vor mir, an ihrem Schreibtisch sitzend und vom Geruch nach Temperafarben und Lösungsmitteln umhüllt (als Enkelin fand ich das superaufregend).
Ja!, sagt meine Mutter nur. Da bekomme ich einen Schrecken. Ich wollte, ich will auch immer schreiben. Nur schreibend verstehe und bewältige ich das chaotische, überfordernde Leben. Vermutlich war es bei meiner Oma genauso, bloß dass die kreative Ausrichtung eine andere war. Meine Mutter sagt: Sie hatte ja schon zwei Söhne. Auf die war sie wohl mächtig stolz, hat sie mit Prinzenfrisuren portraitiert, den Kriegstod des einen hat sie nie verwunden (wie auch?). Er, der Ältere, war im Alter von zwölf Jahren in eine Kadettenschule gesteckt worden. Wahrscheinlich hatte sie Schuldgefühle ohne Ende. Meine Mutter hat ihr dabei assistiert, hat ihr mit ihrer Bewunderung und lebenslangen Verehrung die Schuldgefühle zu ertragen geholfen, bis über den Tod hinaus, bis auf den heutigen Tag.