Im Brillenladen

Freitag. Ich mit dem verratzten, mittlerweile drei Monate alten Rezept in der Hand: „Ich würde mich gerne mal umschauen. Dumm ist nur, dass mir Brillen nicht stehen …“
Die freundliche Optikerin reicht mir, nach kurzem aber intensivem Gesichts-Check, ein rotes Gestell mit eher runden Gläsern. Sieht schick aus – bis es auf meiner Nase landet.
Die Optikerin lacht. „Eine Brille ist eben kein Schmuckstück!“, sagt sie.
WHAT? Für eine Optikerin eine seltsame Ansage.
Das scheint ihr jetzt auch aufzugehen. „Brauchen Sie denn wirklich eine?“, schiebt sie nach.
Diese Überlegung kommt mir gelegen. Ich: „Eigentlich nur eine Lesebrille. Mit dem Rest komme ich ganz gut klar.“
Optikerin: „Und warum waren Sie beim Augenarzt?“
Ich: “Weil ich den Mond und die Sterne doppelt gesehen habe. Überhaupt sehe ich ziemlich viel doppelt in letzter Zeit. Aber nicht wirklich schl …“
Mir geht das jetzt doch nach. Das Gelächter einer Brillenverkäuferin, wenn man sich eine zuvor von ihr dargereichte Brille aufstülpt, ist ziemlich vernichtend. Außerdem – logo ist eine Brille ein Schmuckstück! In manchen Gesichtern jedenfalls. Ich kenne sogar welche, die mit besser aussehen als ohne. Ein ziemlich teures Schmuckstück übrigens, besonders wenn es sich um …
„Eine Gleitsichtbrille soll es sein,“ sage ich und grüble auf einer Nebenspur immer noch, wie ich ihr Lachen zu interpretieren habe, als wäre das eine Frage. Ist doch sonnenklar: Sehhilfen sehen bei mir bescheuert aus. Weiß ich ja.
„Das halte ich jetzt aber für übertrieben“, sagt die Optikerin nun zu meinem großen Erstaunen. „Eine Gleitsichtbrille wird nie abgesetzt. Die müssten Sie ständig tragen.“
Wir schauen uns ratlos an, ich nehme noch drei, vier weitere Gestelle vom Regal und lege sie alle schnell wieder zurück.
Dann sehe ich sie. Dolce & Gabbana. Getigert. Mit rotem Rand und braunen Gläsern. Ich setze sie auf und fühle mich phantastisch.
„Die steht Ihnen!“, sagt die Optikerin. Sie lacht wieder, aber jetzt anders. „Nehmen Sie die Sonnenbrille. Das andere kann warten.“
Bilde ich es mir ein, oder schwingt da ein verschwörerischer Ton mit? Wir gemeinsam gegen den Augenarzt … Oder, wahrscheinlicher: Wir gemeinsam gegen das Älterwerden … Ich lasse mir die Daten aufschreiben. Das D&G-Luxusteil ist teuer, jedoch längst nicht so teuer wie eine Gleitsichtbrille. Ein echtes Schmuckstück. Schick und nützlich. Ich sehe die Welt durch einen angenehm verlaufenden Herbstton. Nichts ist doppelt, dazu ist die obere Hälfte der Gläser zu dunkel.
Vielleicht komme ich morgen nochmal vorbei. Wäre durchaus möglich.
Das Rezept lasse ich im Schirmständer verschwinden.


Kluge Worte übers Schreiben

“Wissen, dass man nicht für den Anderen schreibt,
wissen, dass diese Dinge, die ich schreibe,
mir nie die Liebe dessen eintragen werden,
den ich liebe,
wissen,
dass das Schreiben nichts kompensiert,
nichts sublimiert,
dass es eben da, wo du nicht bist, ist –
das ist der Anfang des Schreibens.”

(Roland Barthes)

Von Künstlern und Bürgern

Den Faust, den Steppenwolf alias Harry Haller und den Anselmus haben wir sowas von gekocht, geknetet und durchs Sieb passiert, dass sie nun allen Beteiligten zu den Ohren herauskommen.

Unauslöschlich die Spuren – die „goldene Spur“? – des drögen Dreiergespanns in hunderttausend baden-württembergischen Abiturientenseelen. Indem wir die Seelenqualen von drei existenzleidenden Protagonisten geschlagene zwei Jahre lang durchleuchtet und nachgelitten haben, wird dem omnipräsenten Goethe, dem selbstanalytischen Hesse und dem albernen Hoffmann („ich war doch die Kaffeekanne“) hunderttausendfach – wenn auch erzwungenermaßen – die Künstlerehre nachgereicht, um die sie alle drei gerungen haben. Um nichts anderes geht es in den drei Werken. Hesse, der – OT – für die junge Abteilung steht, weil es offensichtlich keine zeitgenössischen Autor*innen gibt, die es zu behandeln lohnt, hat mir stellenweise direkt Spaß gemacht, aber um mich geht es nicht. Sondern um 16- und 17-Jährige, die trotz gestrichenem neunten Schuljahr und ungeachtet der Tatsache, dass wir alle neunzig werden, von ihren sorgenden Eltern mit gerademal fünf auf die Schulbank gedrückt und untervolljährig in den Wettkampf des Lebens gekippt werden.
Da sitzen sie dann und sind „verstört“, wenn man ihnen Jonathan Meese als lebendes Beispiel aller Hesse’schen Theorien vorführt. Ich wäre auch verstört gewesen, nicht wg Meese, den hätte ich schon mit siebzehn gut gefunden, wenn es ihn gegeben hätte, sondern weil das Jammern von MidlifeCrisis/Erkenntniskrise-geschüttelten Männern auf hohem Niveau Siebzehnjährigen nicht in den Kopf will – eine Tatsache, über die leitende KuMi-Pädagogen wider alle pädagogischen Erkenntnisse mit verstörender Ignoranz hinwegstiefeln.

Auf die wirklich interessante Frage, wie sich der Künstler (oder die Künstlerin, was es ja auch geben soll) als Bürger bewähren und sich in der bürgerlichen Gesellschaft einen Platz verschaffen kann, finden alle drei letztlich keine Antwort.

Das ist nämlich ein tägliches Suchen und Finden, und einen Generalschlüssel gibt es nicht. Weil auch der Künstler Geld verdienen muss, so einfach ist das, weil nämlich keiner ihm ein Schloss schenkt, wie seinerzeit schon Rilke sehr bedauernd festgestellt hat.

Ungleich stärker stellt sich das Problem für Frauen, für Künstlerinnen. Neben der Kunst und dem Broterwerb haben sie in aller Regel auch noch die Kinder an der Backe – sofern sie sich überhaupt trauen, welche in die Welt zu setzen. Von der Haushaltung will ich hier gar nicht reden. J. W. von Goethe hatte dafür seine Christiane und E.T.A. Hoffmann seine Mischa, während Hermann Hesse nach der Scheidung von seiner ersten Frau Maria Bernoulli die drei gemeinsamen Söhne einfach in der Verwandtschaft verteilte. Um ungestört weiterschreiben zu können. Eine Lebensabschnittsgeschichte, die sich in keiner Zeile seines umfangreichen Werkes widerspiegelt, das doch im Wesentlichen sein eigenes Ich, sein eigenes Handeln, sein eigenes Ver- und Unvermögen zum Thema hat.

Schreiben Frauen über solche Themen Dramen? Oder Romane? Könnte es einen weiblichen Faust geben? Eine mit sich selbst hadernde Faustine, weil sie Kinder, Kunst und Kohle-Verdienen nicht unter einen Hut bringt? Sorry, weil sie ihre Mutterseele, ihre Künstlerinnenseele, ihre Bürgerseele in ihrem Inneren miteinander vereinen möchte? Nicht zu vergessen ihre Geliebtenseele, ihre Kämpferseele, ihre Unternehmerseele … da hat der Hermann schon recht: der Mensch, der besteht „nicht nur aus zwei Seelen, sondern aus hundert, aus Tausenden“. Mit dieser eher schlichten psychoanalytischen Erkenntnis meint er Collega Goethe zu übertrumpfen, was mir ja herzlich egal sein könnte, wenn ich es nicht so strange fände, einen Klassiker, der schon über ein Jahrhundert unter der Erde liegt (von Hesse aus gerechnet), intellektuell auszuknocken.

Aber zurück zu den Frauen. Es gibt sie nicht, die Dramen und Romane von jammernden Künstlerinnen, die ihre verschiedenen Arbeitsbereiche nicht organisiert kriegen. Also auf der Seelenebene jetzt. Was bei Hesse Hunderte von Seiten füllt, findet in der Literaturgeschichte keine weibliche Entsprechung. (Zwar beklagten und beklagen Schriftstellerinnen die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz weiblicher Kunstschaffender, aber das ist ein anderes Thema.) Und warum gibt es sie nicht?

Vielleicht weil, – naja, das würde mich eben echt mal interessieren …

Wie dumm ist der Mann?

Montag. Das Rad sei vor der Mauer erfunden worden, verkündet Trump gerade überall und vor allen möglichen Gremien.
Will sagen: Rad und Mauer, letztere besonders, seien mitnichten antiquierte, sondern sogar sehr erprobte Mittel. Also, um Feinde bzw. mexikanische Flüchtlinge abzuwehren, nicht um darin zu wohnen, was ja der eigentliche Sinn der wunderbaren Stein-auf-Stein-Erfindung gewesen sein wird, und zwar einige Jahrtausende vor – verdammte Axt!, hab ich etwa Lust mich mit Trump zu beschäftigen?

Lass uns über den Tod reden – Gisela Getty

Freitag. Jutta war eine extrem intuitive Persönlichkeit. In unserer Gruppierung war sie die Speerspitze. Sie erfasste die Dinge viel schneller als wir. Jutta durchschaute die Menschen, aber auch sich selbst. Sie hinterfragte alles, setzte sich dieser Hinterfragung aber auch selbst aus. In dem Film Schneeweiß Rosenrot fantasieren wir an einer Stelle: „Wir möchten heiraten, einen Prinzen, der uns auf Händen trägt, ein Häuschen mit Rosengarten, ganz normal sein, Sicherheit, ein kleines Nest …“

Und dann brüllen wir vor Lachen.

In Wirklichkeit hätte Jutta das sofort dekonstruiert. Sobald sie einen sicheren Ort gefunden hatte, machte sie ihn kaputt. Die Sicherheit war uns wie ein Gefängnis. …

Jutta hatte Mut. Sie ist immer weitergegangen, durch alle Konsequenzen. So ist sie auch gestorben. …

Jutta hat sich als Pionierin des Sterbens gesehen. In den Siebzigern haben wir die Jugend neu erfunden, jetzt wollte Jutta das Sterben neu erfinden. Jede Frage, jede Angst sah sie sich mit Rainer genau an und bearbeitete sie. Sie nahm keine Morphine, Schmerzmittel lehnte sie ab. Wenn wir ihr Bett machten, fanden wir oft die ausgespuckten Tabletten in den Laken. Sie sagte immer, sie habe nicht 40 Jahre lang meditiert, um am Schluss verwirrt und ohne klares Bewusstsein hinüberzugehen. …

… erzählt Gisela Getty über ihre verstorbene Schwester Jutta Winkelmann in: Lass uns über denTod reden (Erscheinungstermin: 13. März 2019)

Buchpremiere: 28. März 2019 in der Osianderschen Buchhandlung Tübingen