Mittwoch. Maxim Biller ist einer der Größten, und mit Der falsche Gruß (Kiepenheuer Witsch, 2021) wird er noch ein bisschen größer inmitten des deutschsprachigen Nichtssager-Einerleis.
Die Handlung: Ein Schriftsteller mit DDR-Vergangenheit fasst im wiedervereinten Deutschland Fuß auf dem glatten Parkett der untereinander schwer konkurrierenden Intelligenzia. Mit Chuzpe navigiert er sich und sein brandaktuelles Werk durch das Gestrüpp aus Missgunst, Autorenneid, Männerneid und Skrupellosigkeit, das die Verfeindeten wider ihren Willen miteinander verbindet.
Der falsche Gruß leuchtet bitterböse das Dunkel der bundesrepublikanischen Tabus aus, löst wenig, sagt aber viel. Vieles bleibt unverständlich, Biller wieder als Meister der Anspielung, der zahllosen, rasant sich jagenden Insider, was die Nichtinsiderin kurz mit dem Gefühl des Ausgeschlossenseins hadern lässt, bis sie sich avanti, avanti wieder einkriegt, denn, zack!, stolpert sie bereits über den nächsten Namen oder das nächste Ereignis, das erinnert oder historisch eingeordnet werden will. (Ich persönlich mag das, wenn ich nicht jedes Detail blicke.)
Die geneigte Leserin entdeckt in beiden Figuren, dem Helden und dem Antihelden, original Billerhaftes bzw. billerhafte Selbstironie, passenderweise verschwimmen im Buch diese Zuschreibungen. Und jetzt kein Wort mehr – Spoileralarm!
Fazit: Ein Buch, auf das man sich freut. Großartig!
Kategorie: 2021
Langweilig
Mittwoch. Das langweiligste Buch ever ist August von Peter Richter (Hanser, 2021). Woher die vielen positiven Kritiken kommen, keine Ahnung. Einzige Erklärung: keine(r) der Verfasser*innen ist über Seite 5 rausgekommen. Schlimmster Fehler ever: Langweilig über Langeweiler zu schreiben – und damit zum Inhalt:
Zwei reiche Paare langweilen sich beim “sommern” – der einzig originelle Einfall auf insgesamt 251 Seiten und alle Kritiker erwähnen ihn, ach ja, er kommt auf Seite 5 – in den Hamptons auf Long Island. Die kleine Gesellschaft wird aufgemischt von einem durchtriebenen Achtsamkeits-Guru und einem geilen Kindermädchen. Die Unterhaltungen drehen sich um fette Autos versus Globuli. Am Ende sind die Paare gar nicht mehr so reich, aber ganz am Ende werden sie es doch wieder, der Guru ersäuft im Pool und das Kindermädchen war nur für einen One-Night-Stand zu haben. Sorry für den Spoiler.
Die vier sollen für die westliche Gesellschaft metaphern, ja. Ich empfehle das Buch als chemiefreies Hypnotikum. Nach spätestens eineinhalb Seiten rutscht es dir aus der Hand, und ehe du dich’s versiehst, schlummerst du in Morpheus’ Armen.
Wer von reichen, unzufriedenen, im Paralleluniversum nach Sinn suchenden Upper-Class-Leuten lesen mag, dem sei dringend die rasante Crazy-Rich-Trilogie von Kevin Kwan empfohlen. Lesegewinn: origineller, informativer, unterhaltsamer!
Keine Fragen
Sonntag, Oberdürenbach. Mutterbesuche immer schwerer zu verkraften. Vor wenigen Jahren gab sie uns einen Korb: Ausgeschlagen alle drei Angebote, in unseren jeweiligen Wohnorten ver-/umsorgt zu werden. Ein Fehler. So viele Fehler. Kein Raum mehr für Fragen, nur noch Mitleiden. Abends zu Anne und Jacek (so gemütlich), später zurück in PMs Ersatzwohnung am Fuß der eisigen Eifel …
Connecten
Donnerstag. Werde immer dünnhäutiger. Das “Amt” frisst mich. So viele Blicke, so viele Erwartungen. Sie suchen Zuwendung und Interesse, was ich in dem Maß nicht geben kann, niemand kann das dreißig und nochmal dreißig und nochmal dreißig Mal am Tag. Stückwerk. Sie suchen ein Vorbild, ein gutes Beispiel, da werde ich wütend. Ich will kein Beispiel sein, will mir aussuchen, wem ich Vorbild bin, ich weiß um die Bedeutung und schrecke gleichzeitig zurück.
Meine Schreibwerkstatt ist der Freiraum. Sie finden ihre Texte cringe, sie winden sich in ihren oversized Pullovern und ziehen die langen Ärmel weit über ihre Hände. Mit Engelszungen rede ich auf sie ein, bis sie sich schließlich gegenseitig zeigen, was sie geschrieben haben, und dann sind sie zu Tränen gerührt, weil sie sich in den Worten der anderen wiederfinden, weil die Worte sich mit ihnen connecten und gar nicht mehr cringe sind, weil sie sich frei und unbeschwert fühlen wie sonst nie im “Amt”. Wir arbeiten auf unseren alljährlichen Auftritt in Stuttgart hin. Sie haben verstanden, dass Arbeit am Text sich auszahlt: Eine von meiner Truppe hat im November den 3. Platz beim überregional ausgeschriebenen 18. Wekenmann-Literaturwettbewerb gewonnen, als einzige Schülerin!
Vom Verlag heute Absage für meinen Roman. Kein Gedanke an die Wahnsinnsarbeit, aber diese Hoffnung … . Wegstecken, als sei das nichts …
Verstrahlt
Dienstag. Morddrohungen auf Telegram Messenger gegen Politiker*innen, Fackelauflauf in Grimma vorm Wohnhaus der wunderbaren Petra Köpping, Missbrauch des Davidstern-Symbols, krude Theorien über magnetische Einstichstellen nach der Impfung, über Chips im Impfstoff und eine Verbrüderei von US-Techunternehmen, Pharmaindustrie und der Berliner Politikerriege zum Zweck der Menschheitsvernichtung – ich spitze die Ohren bei den Impfgegner*innen in meiner unmittelbaren Umgebung und schwanke zwischen Neugier und Grusel. Ein aufgeheiztes Kraut und Rüben von Aberglaube, rechtsradikalem Gedankengut, Uninformiertheit, Opfermentalität und Großmannssucht sorgt für schrille Töne in den Medien und auf den Straßen.
Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach, kein Bankkaufmann, sondern endlich mal ein Mann vom Fach, hat sich selten in seinen Prognosen geirrt, und wo er falsch lag, hat er es zugegeben und sich entschuldigt. Das rechnen ihm viele hoch an, ich auch. Sich zu entschuldigen, zeigt Stärke, bei Politiker*innen eher selten. Vielleicht entschuldigt sich Lauterbach ja dann auch mal für die 4000 Intensivbetten, die seit Jahresbeginn weniger zur Verfügung stehen.
Im “Amt” lassen sich die Gegner*innen an einer Hand abzählen. Meine Lieblingskollegin gehört dazu, sie ist nicht so verstrahlt wie manche andere, die nächtelang im Netz festhängen und irgendwelche Seiten inhalieren und sich als Expert*innen in der hohen Kunst der Virologie ausgeben. Letzteres geht mir besonders auf die Nerven.
Am liebsten meide ich das Thema, es kocht brutal schnell hoch und weckt Empfindlichkeiten, alle möglichen Leute fühlen sich durch alles mögliche verletzt, auch zwischen PM und mir kein guter Gesprächsstoff …
Entscheiden
Samstag in Eisenach. Trauriger Anlass, schönes Beisammensein, resümiert Tov und klopft, schon im Mantel, auf den Tisch. Es ist vollbracht, das Versenken der Urne in die Erde, das Festhalten des Alten, der Weg zurück – das war das Schlimmste an dem Tag.
Frieders Predigt, von der jeder Satz, jedes Wort in die Wirklichkeit eines Zerrissenen, mit sich und der Welt Kämpfenden wohlwollend hineinleuchtet – Vater, Bruder, Freunde, Exfreundinnen verstehen jeweils auf ihre Weise, worum es geht, und füllen das Ungesagte mit ihrem Wissen. F. Kranich, Pfarrer aus Weimar, ist der Prediger lutherischen Abbildes, den jeder sich einmal an sein Grab wünscht, und so wird er gleich mehrfach gebucht. Ich werde übrigens auch gebucht, von meiner neuen Eisenacher Freundin. Wir sind beide starke Frauen – wirklich, an ihr Grab mag ich nicht denken, sie ist jünger als ich, wir haben jede noch viel vor, vielleicht sogar zusammen.
Manche haben sich seit Jahrzehnten nicht gesehen. Die Location: das wg. Corona seit Wochen geschlossene und von uns angemietete Kleinkunstcafé Lebemann. Hast du die Adressenliste, fragt jemand PM. Ja, hat er. Die Idee: Genau die Leute, die heute wg. Reinhard zusammengekommen sind, treffen sich in Zukunft jedes Jahr, dann aus gutem Anlass. Das wird unsere Aufgabe sein, merke ich, und freue mich drauf. Genau hier, sage ich zu PM: im Lebemann mit dem Musikstudio im Hinterzimmer (wo PMs Tochter L. vorhin die Corona-Schnelltests durchgeführt hat) und den Instrumenten und Veranstaltungsplakaten im Gastraum mit der hochherrschaftlichen Stuckdecke und dem bedeutungsvollen Tresen.
Am Abend bei T. und A. die erste Liebeserklärung meines Lebens von einer Frau! Nicht soo eine Liebeserklärung. Eine echte, eine Freundschaftsliebeserklärung, und wir liegen uns in den Armen und heulen. Was für ein durchgeknallter Tag. Sie wünsche sich so sehr, dass wir nach Eisenach kommen, sagt sie, und da wird mir schlagartig klar, dass die Entscheidung längst gefallen ist.
Dass es Menschen gibt, die auf uns warten, die auf uns zählen.
Du hast den Farbfilm vergessen
Freitag. Angela Merkels Liedauswahl für ihre Verabschiedung mit Großem Zapfenstreich am 02. Dezember verdient Respekt:
Knefs 1968er Emanzipations-Hit “Für mich soll’s rote Rosen regnen”; das spätbarocke Kirchenlied “Großer Gott wir loben dich” und – Überraschung: Nina Hagens Gassenhauer “Du hast den Farbfilm vergessen”.
Letztes handelt von einem Urlaub des lyrischen Ichs, das mit Nina Hagen identifiziert werden kann („Landschaft und Nina und alles nur Schwarz/Weiß“). Es verbringt ihn mit Freund Michael, genannt Micha, auf Hiddensee. Dieser hat vergessen, den Farbfilm für die Kamera mitzunehmen, weswegen die Urlausfotos nun alle schwarz-weiß sind. Seine Wut darüber bringt das lyrische Ich / Nina mit – für eine unbedarfte Hörerschaft – zum Teil schrägen Bildern zum Ausdruck:
„Dass die Kaninchen
scheu schauten aus dem Bau.
So laut entlud sich
mein Leid ins Himmelblau.
So böse stampfte mein nackter Fuß den Sand
und schlug ich von meiner Schulter deine Hand.“
Hagen selbst kommentiert den ironischen Unterton des Textes in ihrer Autobiografie:
„Wahrscheinlich muss man in der DDR geboren sein, um all die Anspielungen und manchmal recht derben Bezüge zu verstehen, die dieses Lied zur heimlichen Nationalhymne einer ganzen Generation machten. Das Lied trieft vor Ironie; es ist Schlager durch Zerstörung von Schlager. Der Farbfilm atmet im Hintergrund das giftige Grau von Bitterfeld und die Tristesse von Leipzig; es spiegelt die Trostlosigkeit der Arbeitswelten zwischen Akkordschraube und Herumlungern an kaputten Maschinen; es spielt im Milieu einer irren Sehnsucht danach, dieser Schwarzweißwelt zu entfliehen, hin zu Orten voll Farbe und Licht. Da sind die kleinen Fluchten in die Natur, ans Meer, an die endlosen Sandstrände der Ostsee – Rügen, Usedom, Hiddensee -, Fluchten ins private Glück, in ein bisschen erotische Freiheit, die zum Guckloch des Paradieses werden. Aber das Paradies wird eingeholt von der banalen Alltagserfahrung in einem Staat, der knattrige, stinkende Plastikautos, beknackte Badeanzüge und Jahr für Jahr zu wenig Farbfilme hervorbringt.“ (Nina Hagen: Bekenntnisse, München 2010, S, 165)
Nina Hagen (*1955) war seit 1974 Sängerin der Rockband Automobil, deren Keyboarder Michael Heubach (*1950) das Lied komponierte. Der Text stammt vom deutschen Liedermacher und Texter Kurt Demmler (1943-2009). Da die für ironische Untertöne sensibilisierten DDR-Bürger*innen das Subversive in Wort und Melodie durchschauten, wurde der Schlager in der DDR gefeiert und später auch im Westen, wo seine Doppelbödigkeit jedoch unterging. Schlager killt Schlager – das hat unsereins nicht kapiert.
Hagen trennte sich ein Jahr später von der Band und verließ 1977 die DDR.
Impfstoff
Donnerstag. Boosterimpfung in einer fast menschenleeren Praxis – der Impfstoff geht aus! Von einem Brandbrief der Hausärzte erfahre ich von meinem Dr. D., während er die Nadel in meinem Arm versenkt. Manchmal versteht man die Welt nicht mehr. Da setzt die Regierung alle Hebel in Bewegung, Impfunwillige zum Impfen zu tragen, und dann vermasselt sie’s mit der Nachbestellung. Jede(r) wieder heimgeschickte Herbeigerufene ist Wasser auf die Mühlen der Skeptiker*innen …
Nacht
Schnee an den Fahrbahnrändern. Minutenlange Leere auf der B28, auf der heute Nachmittag PM davongefahren ist. (Seine ausgestreckte Hand.) Jetzt spiegeln sich die gelben Lichter der Straßenlaternen auf dem kalt glitzernden Asphalt.
… dass etwas Großes passieren würde
- RND Redaktionsnetzwerk Deutschland, 26.11.2021 Die Flutkatastrophe vom Juli hat allein in Nordrhein-Westfalen 49 Menschen das Leben gekostet.
- Mit einem Untersuchungsausschuss sollen mögliche Versäumnisse untersucht werden.
- Wetterexperte Kachelmann und eine Professorin machten deutlich: Es gab frühe Warnsignale.
Schon Tage vor der Flutkatastrophe zeichnete sich nach Einschätzung des Wetterexperten Jörg Kachelmann (ich zitiere ihn nur ungern) ein extremes Wetterereignis für den Südwesten von Nordrhein-Westfalen ab. Am Montag, den 12. Juli, sei nach den Wettermodellen eigentlich bekannt gewesen, dass etwas Großes passieren würde, sagte Kachelmann am Freitagabend bei seiner etwa zweistündigen Befragung als Zeuge im Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags zur Flut in Düsseldorf. Die Wettermodelle hätten bereits an jenem Montag die große Gefahr einer Extremwetterlage mit sehr großen Regenmengen bestätigt, nachdem sie am Sonntag eindeutige Hinweise auf eine Extremwetterlage durch Stark- und Dauerregen in NRW geliefert hätten. Kachelmann schilderte die außergewöhnliche Wetterkonstellation im Juli: dass feuchte Luftmassen von Nordosten statt von Westen gegen die Eifel gedrückt worden seien, dass ein sehr großflächiges Gebiet unter Starkregen gestanden habe, dass der Boden nicht mehr aufnahmefähig gewesen sei.
“Das ist die gute Nachricht, wenn es eine gute Nachricht gibt: Sie können das verhindern”, sagte Kachelmann zu den Landtagsabgeordneten. Bei einer Extremwetterlage dürfe keiner schlafen gehen.
Kachelmann warnte vor dem Hochwasser
Als Kachelmann am Ende auf die mögliche Kostenerstattung für seinen Aufwand zur Zeugenbefragung hingewiesen wurde, erklärte er, das Geld solle lieber einem Opferfonds gespendet werden.
Der Wetterexperte hatte am 13. Juli mittags per Tweet gewarnt, es werde “womöglich Zeit, Menschen allmählich behördlicherseits und medial auf ein Hochwasser-Szenario vorzubereiten”. In der folgenden Nacht kam es dann zu den ersten Überschwemmungen.
Einige Tage vor der Flutkatastrophe hatte nach Angaben der britischen Expertin Hannah Cloke das europäische Hochwasser-Warnsystem EFAS einen ersten Hinweis auf ein mögliches Extremereignis im Rheinland gegeben. Am 10. Juli 2021 habe EFAS ein Hochwasser, das einmal in 20 Jahren auftritt, mit einer Wahrscheinlichkeit von 22 Prozent für das Rheinbecken prognostiziert, sagte die Hydrologie-Professorin.
Diese Information sei zwar noch unsicher gewesen, aber man sollte in einem solchen Fall besonders aufmerksam sein, erläuterte sie. Das sei der Zeitpunkt, an dem national zuständige Behörden einige Informationen zusätzlich anschauen, um ein klareres Bild der Lage zu bekommen. Sie habe keine Hinweise, wie die von EFAS zur Verfügung gestellten Informationen von den entsprechenden nationalen und lokalen Stellen letztlich verwendet worden seien. EFAS-Partner erhielten Warnungen. Diese könnten dann selbstständig auf das Webportal des Warnsystems zugreifen und dort weiterarbeiten.
Versagen der Landesregierung?
“Wenn so viele Menschen sterben, müssen wir zugeben, dass das System insgesamt versagt hat”, bekräftigte die Expertin ihre bereits geäußerte Kritik. Sie betonte, dass sich diese Kritik nicht auf bestimmte Bereiche des Systems in Nordrhein-Westfalen beziehe. Sie habe keine Untersuchungen angestellt, wie die einzelnen Teile im Zuge der Flutkatastrophe von Juli funktionierten.
Der Untersuchungsausschuss im Landtag von Nordrhein-Westfalen (wann zieht Rheinland-Pfalz nach???) war mit den Stimmen der Oppositionsabgeordneten von SPD und Grünen zustande gekommen. Das Gremium soll mögliche Versäumnisse, Unterlassungen oder Fehleinschätzungen der CDU/FDP-Landesregierung und nachgeordneter Behörden in Zusammenhang mit dem verheerenden Hochwasser von Mitte Juli mit 49 Toten in NRW untersuchen. Im Frühjahr 2022 soll dem Landtag ein öffentlicher Bericht über die bis dahin vorliegenden Erkenntnisse vorgelegt werden. Im Mai 2022 sind Landtagswahlen. (mss/dpa)