Brücken

Sonntag. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet einen neuen Höchststand der Sieben-Tage-Inzidenz von 446,7. Die Politiker*innen schätzen ein, rechnen mit …, überdenken … überlegen …

PM und ich waren gestern shoppen, solange die Geschäfte noch offen haben. My good old Marbello ist gar nicht mehr das alte Marbello, sondern umgezogen, dahin, wo ein anderes Geschäft wg. Corona in die Knie gegangen ist. Aber die Belegschaft ist noch die gleiche und Elke zieht wissend ein korrektes Teil für mich raus. PM findet’s so zwei bis drei, ich find’s toll: Rot mit Lila, die Bluse wird gekauft und bis Weihnachten versteckt. Apropos Weihnachten: Zum ersten Mal, seit meine Kinder auf der Welt sind, gibt es keine Adventskalender. Statt 3 mal 24 Geschenke (mit PMs) einzupacken und – unbedingt! – in der richtigen Reihenfolge aufzuhängen, gönne ich mir eine Art Adventsruhe: Schulter bedingt, Corona bedingt … .

PM zeigt mir seine neuesten Fotos von Bad Neuenahr und Ahrweiler. In Ahrweiler geht es sichtbar voran. In Bad Neuenahr dagegen mit den vielen Mehrfamilienhäusern, Reha-Kliniken und Hotels dauert der Aufbau ungleich länger. Der Anblick des einst prunkvollen Ensembles im Zentrum von BN mit dem Steigenberger Hotel auf der einen und dem Casino auf der gegenüberliegenden Uferseite macht mich immer wieder fassungslos. Die massive Kurgartenbrücke mit ihren für die Ewigkeit gemauerten Stützpfeilern ist unter den Wassermassen der Jahrhundertflut weggebrochen. Eine vom THW in Windeseile errichtete, zweispurige Stahlbrücke ermöglicht nun den Übergang über die Ahr. Der Fluss hat sich ein vulgär breites, schlammiges Bett gegraben. Nichts erinnert mehr an die bewachsenen Böschungen, an die verborgenen Winkel für Enten und Liebespaare, an die in jedem Frühjahr wiederkehrende Blütenpracht.

Auch direkt vor PMs Haus führt jetzt, statt der alten Bachemer Brücke, eine solche Behelfsbrücke über die Ahr, im Hintergrund sieht man übrigens PMs ehemaliges Wohnhaus …

Wir suchen die Lieder für Reinhards Beerdigung raus. Zwei Stücke von Bach und eins von Marianne Faithfull, As Tears Go By, das hat er sich gewünscht. Isa kommt zum Frühstück, irgendwie ist die Stimmung trübe, obwohl wir uns alle drei Mühe geben. Sie bringt eine Tasche voll Bücher für PM mit. Tatsächlich sind Ausgaben dabei, die er genauso früher hatte. Darüber freut er sich.

Die Brötchen sind gut, die Leberwurst aus Thüringen auch …

Links

Freitag. Fange jetzt wieder das Linksschreiben an. Nach drei Wochen Fehlen im “Amt”, ohne dass sich großartig was gebessert hätte, muss ich mir was einfallen lassen. Klappt erstaunlich gut. Vor Jahrzehnten wurde es mir ausgetrieben, doch das Potenzial schlummerte nur. Es geht ziemlich langsam. Die Kids gucken zu und behaupten, sie könnten es jetzt besser lesen als vorher. Sie sind sehr freundlich. Sie freuen sich, dass ich wieder da bin. Das finde ich ganz rührend. Vielleicht, weil ich alles so mache wie immer und sie nicht drangsaliere. Ich höre mir gern ihre Geschichten an. Sie sagen manchmal erstaunliche Sachen. Sie fragen, ob mein Ring echt sei – mein fetter Klunker von Pylones, den ich an meiner bandagierten Rechten trage. Ich sage, wenn der echt wäre, bräuchte ich nicht mehr zu arbeiten. Wollen Sie reich aussehen?, fragt Joschua und guckt mich sehr ernst an. Dafür liebe ich sie. Für ihre Ernsthaftigkeit. Für ihre Aufrichtigkeit, die mich aufrichtig sein lässt. Das macht die guten Vibes. Ich sage, dass ich aber sehr gerne arbeite. Sie nicken und lächeln, das scheint sie zu freuen. Ich schreibe weiter mit links, und sie sind ganz leise und schreiben alles ab. Corona hat sie so leise gemacht und so widerstandslos, das schnürt mir die Kehle zusammen. Und dann zeige ich ihnen noch was Neues, und jetzt wird es doch laut: Boah! Linksschreiben in Spiegelschrift. Und das geht sogar richtig schnell –
Bis zum nächsten Mal schreibt jeder seinen Namen. Und eine Linksgeschichte: Mit links natürlich! Und spiegelverkehrt …

Messiah Is Coming

https://www.youtube.com/watch?v=Uvufun6xer8
Rebranding des Facebook-Konzerns zu Meta: CEO Mark Zuckerberg

Frohe Botschaft: Mit zugewandter Geste präsentiert Marc Zuckerberg seinem Volk die neue Firma mit dem Unendlichkeits-Logo: Metaverse erschafft den Übergang von der realen in die virtuelle Welt:
“Wir alle müssen von Anfang an zusammenarbeiten, um die bestmögliche Version dieser Zukunft zum Leben zu erwecken …”
Ja, Marc, wir können es kaum erwarten. Gib uns die VR-Brille, entlasse uns in eine bessere Realität, auf dass diese Scheiß-Echtwelt endlich ein Ende hat …

(R)Evolution

Sonntag. Endgeile Aufführung im LTT: (R)Evolution, SciFi-Komödie von Yael Ronen und Dimitrij Schaad, inspiriert von Yuval Noah Harari.
Schon das Intro sensationell – Genetik, Transhumanismus, Cyborgs, superintelligente Haushaltsroboter – die Technik übernimmt, und die biobasierten Restmenschen drehen hohl.
Genau mein Thema! Raymond Kurzweils wilde Visionen in Literatur verwandelt – nur dass Googles Chefingenieur es in seinen Werken komplett an Ironie und kritischer Distanz fehlen lässt …
Bin sehr froh, dass wir das sehen konnten, bevor die Schotten wieder dicht gemacht werden.
Nach dem Riesenapplaus standen plötzlich Intendant Th. Weckherlin und sein Best Buddy Boris Palmer auf der Bühne, und Palmer erzählt dem verdutzten Publikum, wie toll Tübingen sei und dass man bereits mit seinem Umzug nach Tübingen zwei Jahre gegenüber dem bundesdeutschen Durchschnitt gewonnen habe, weil die Lebenserwartung hier am höchsten sei, und das Tollste überhaupt sei die Tübinger Cyber Valley Initiative, eines der größten KI-Projekte Europas, an dem neben dem Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme auch Amazon u.v.a. beteiligt sind. Und das passe ja nun auf den Punkt genau zum Thema des Stücks …
Na ja, irgendwie eigentlich eher im Gegenteil, aber egal. Palmer ist offenbar schon im Wahlkampfmodus und scheut auch schräge Auftritte nicht.
Jetzt ist PM wieder abgefahren, weg, Dienst in der Klinik und ich vermisse ihn. Der Abschied wird mir jedes Mal verhasster.

Unsterblichkeit

Heute um 17.10 Uhr im Streitgespräch – Deutschlandfunk

Samstag. Unsterblichkeit – nein danke!

Der TH als jüngster Verfechter des uralten Menschheitstraums ist das Gedankenkonstrukt alter (und junger), auf jeden Fall reicher, weißer Männer, die den Frauen das Gebären vielleicht neiden, jedenfalls wegnehmen wollen. So wie sie Frauen die Gebärfunktion rauben, so rauben sie den Musiker*innen, Dichter*innen, bildenden Künstler*innen ihre Kreativität als Ausdruck der Weltbewältigung, sie rauben dem Menschen seinen Körper, sie rauben uns den Tod und der Gesellschaft ihre Moral.

Geburt und Tod sind die natürlichen Grenzen eines biologisch determinierten Lebens.

Transhumanisten wollen den Menschen durch Einsatz von Technologie von seinen biologischen Grenzen „befreien“. Wenn sie von der grenzenlosen Freiheit schwärmen, ignorieren sie jedoch die Tatsache, dass Freiheit sich nur im Angesicht von Grenzen realisieren kann.

Statt den Tod technisch zu verdrängen, sollten wir ihn lieber durch eine Kultur des Sterbens und der Trauer sinnvoll in unser Leben integrieren. Die Auseinandersetzung mit Werden, Reifen, Vergehen und Tod lässt den Menschen erst über sich hinauswachsen.

Der optimierte Mensch des TH dagegen ist eine Ingenieursleistung, an deren Ende der gottgleiche Übermensch steht. Krankheit, Schwäche, Tod sind menschliche Makel, die es mathematisch zu entschlüsseln und zu beseitigen gilt – am besten, indem der Körper als solcher beseitigt wird und nur das Bewusstsein ewig weiterlebt.

Damit ist der TH die Antithese zum humanistischen und zum christlichen Menschenbild.

Transhumanisten folgen einem mathematisierten Weltbild. Sie erheben das Rechnen zur absoluten Instanz. Auch der Mensch ist für sie nichts weiter als eine algorithmische Maschine, die leider noch aus Fleisch besteht. Im Zeichen dieser reduzierten Weltsicht rauben sie uns unsere Autonomie und unsere Selbstbestimmung, unsere schwer erkämpfte Gleichheit, unsere Eigenverantwortung.

Wie kleine Jungs wollen sie spielen. Leider handelt es sich um sehr reiche Jungs, so dass ihr Einfluss immens ist. Statt eines Fußballfeldes stürmen sie die Nanotechnologie, die Biotechnologie, die Informationstechnologie, die Neurowissenschaften. Sie wollen alles!

Sie kontrollieren gern. Deshalb gewinnen sie der realen Welt nichts ab – dem echten Gebären, dem echten Musizieren, dem echten Sterben voller Unvorhersehbarkeiten und Überraschungen. Sie freuen sich, wenn ihre kopierte und synthetisierte Als-ob-Welt funktioniert WIE die reale Welt – ja, wie …

Doch noch entzieht sich der Tod ihrem Machbarkeitswahn.

Heute um 17.10 Uhr im Streitgespräch – Deutschlandfunk

Ausschluss beantragt

Donnerstag. Dass der Landesverband der Grünen Boris Palmer der Kreisschiedskommission Tübingen zum Fraß vorwirft, wirft ein Licht darauf, wo es hingeht in unserer Gesellschaft: Dogmatisierung und Exklusion statt Diskurs und Inklusion. Die Partei hat immer recht! Die Partei bestimmt, was gesagt werden darf und was nicht. Die Partei entscheidet auch über die Konnotation von etwas Gesagtem: Für Ironie ist da wenig Raum. Weil für Nebenbedeutungen überhaupt nur noch wenig Raum ist. Wort ist Wort und Buchstabe ist Buchstabe. Weshalb viele inzwischen vorausschauend das Emoticon für Ironie-Alarm setzen, bevor irgendwelche Deppen sie missverstehen und öffentlich bepöbeln und mit digitalen Fauleiern bewerfen.
Palmer ist verbal zu weit gegangen, keine Frage. Aber er hat sich entschuldigt, und das vermeintliche Opfer seines verbalen Angriffs findet die Sache eher lustig und hat ihm verziehen.
Doch Schwamm drüber ist keine Option für unsere allgegenwärtigen Tugendwächter*innen. Die Linke hat Sahra abgeschossen, die Grünen schießen Boris ab. Er sei “ein hartnäckiger Störer der innerparteilichen Ordnung”, von dem die Partei “befreit” werden müsse, heißt es in dem Antrag. Boris, der Umstrittene, soll mainstreamig werden, dann darf er – vielleicht – wieder anklopfen. OMG! Wo sind die Umstrittenen, die Störer*innen, die Bunten, die es wagen selbst zu denken? Auch wenn sie dabei mal steil daneben hauen, aber dem grauen BRD-Einheitsbrei wenigstens Paroli bieten?
Will noch wer was sagen? Nee? Auch gut …

https://de.wikipedia.org/wiki/Lied_der_Partei

Freiheit

Sonntag. Bundesweite 7-Tage-Inzidenz: 299,1. In Tübingen: 272,2. In Sachsen und Bayern schießen die Werte durch die Decke, liegen in einigen Regionen sogar bei über 1200! Dort gibt es auch die meisten Todesfälle.
Gleichzeitig plant die Noch-Regierung, den Sonderstatus der “Epidemischen Lage von nationaler Tragweite” zum 25. November auslaufen zu lassen. Und auch die neue Ampel-Regierung möchte die Entscheidungsgewalt den einzelnen Bundesländern überlassen, unter Verschärfung des bisherigen Gesetzes. Schwerkranke Covid-Patient*innen müssen teilweise schon wieder in andere Bundesländer evakuiert werden, weil die heimischen Intensivbetten komplett belegt sind.
PM sitzt an meinem Esstisch und ist damit beschäftigt, Reinhards Verträge und Daueraufträge zu kündigen, was sich als schwierig bis unmöglich erweist – die Berliner Behörde hat noch immer keine Sterbeurkunde geschickt (Palmers Berlin-Bashing: “Vorsicht! Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands!”).
Der Sonntagsbrunch bei Wolfgang kommt mir sehr entgegen, da ich immer noch – und wahrscheinlich noch lange – quasi einarmig bin. Es gibt nur ein Thema: Der anstehende Lockdown. Niemand glaubt mehr daran, dass er uns erspart bleibt. Die Aussicht auf einen neuerlichen Stillstand des gesellschaftlichen Lebens ist einfach nur ätzend.
In China mit seiner drastischen, jedoch bewährten Null-Covid-Strategie sind die Zahlen im Vergleich zu Europa verschwindend gering. Der Preis für unsere demokratische Freiheit …