Gehen

Mittwoch. Wenn sie dich so ohne jeden Hintergedanken angucken und einer fragt dann, also wie ist das jetzt, gehen Sie weg, und du sagst, ja, ich gehe weg, und sie gucken so betreten und darauf eine: das ist echt schade, und sie nickt dabei und die anderen nicken auch, dann weißt du, dass du hier viel geschafft hast, weil sie dich sonst nicht jetzt schon vermissen würden. Bei Ihnen war es immer so gechillt, sagt wieder der eine, und ich frage, habt ihr denn auch was gelernt bei mir, so eine richtig doofe Paukerfrage, und sie sagen ja, aber gechillt gelernt, und das ist genau das, was ich immer gewollt habe, dass sie gechillt lernen, so eben fürs Leben und nicht fürs “Amt”.
Ich bin ja noch da, die Schreibwerkstatt mache ich doch noch bis zum Sommer, sage ich.
Das ist ein Trost, vor allem für mich selbst. Danach geht das hier ohne mich weiter. Ohne Schreibwerkstatt, die habe ich aufgebaut, die ist mein Baby sozusagen, und ob ich das woanders / in Eisenach nochmal mache, das zu sagen übersteigt mein Vorstellungskraft, ich würde aber sagen: Nein. Dauert viel zu lange, und meine Ziele sind jetzt andere. Was ganz schön hart ist, weil es Abschied bedeutet, ein Riesenabschied von mehr als zweihundert Jugendlichen, denen ich jeden Vormittag und jeden Nachmittag im Zweistundenrhythmus gegenübersitze, die Schreibwerkstatt ist ja nur das Sahnehäubchen, und die zu verlassen fällt mir am schwersten. Weil da die Besonderen sind, eine Ansammlung von Besonderen: Menschen, die schreiben.

Stoffumwandlung

Montag. Seit Thea nach Göttingen gezogen ist und Dorle nach Berlin, seit Susanne mit ihrem Liebsten monatelang im Bus durch die Welt cruist und meine beiden Lieblingskolleg*innen aus dem “Amt” entschwunden sind, ist es für mich einsam in Tü geworden.
Im März Wiedersehen mit meiner Kamener Schulfreundin Ulrike, die in Freiburg als Musiktherapeutin arbeitet. Mit ihr zu quatschen ist wie ein Ufo besteigen.

Doppelmoral

Samstag. Die Ukraine soll 40 Marder-Panzer und ein Patriot-Flugabwehrsystem aus Deutschland erhalten. Aus den USA kommen noch weitere Panzer dazu. Wohin diese Spirale eskaliert, kann und will ich mir gar nicht ausmalen.
Seit dem Zerfall der UdSSR haben die USA und die NATO-Staaten systematisch Geld und Waffen in die Ukraine gepumpt, um sie als Gegenspieler Russlands groß zu machen. Können sie sich ein militärisches Unterliegen der Ukraine jetzt überhaupt noch leisten?
Siegesgewiss verkündete US-Sprachrohr Baerbock schon im Juni: “Die Ukraine muss gewinnen!”
Sind die Karten also längt ausgelegt? Beide Seiten wollen diesen Krieg  für sich gewinnen. Verhandlungen scheinen zum augenblicklichen Zeitpunkt unvorstellbar. Insofern macht das Geschrei nach mehr und mehr und immer noch mehr Waffen aus der Ampel-Perspektive Sinn, allen voran Strack-Zimmermann / Baerbock / Hofreiter.
Selenski sieht sich, wie nicht erst seine Rede im US-Kongress belegt, in der moralischen Führungsrolle des Westens. Ihm folgend, haben unsere Regierungsparteien – und denen wiederum folgend, unsere Medien – in wenigen Wochen die historisch gewachsenen Selbstzweifel, was westliche Geltungsmacht angeht, über Bord geworfen. Dankbar verabschieden sich Politiker*innen und Leitmedien in kürzester Zeit von Werten wie Pazifismus, Frieden und Vertragstreue und wendehalsen sich zum neudeutschen Führungsanspruch. Das Waffengeschäft brummt, die Doppelmoral auch.
Solange Deutschland in der zweiten Reihe steht, können unsere Wortführer*innen risikolos anderen einheizen. Und dürfen zuschauen, wie andere in oder durch deutsche Superpanzer krepieren. ‘Zuschauen und vergessen’ scheint die Direktive.
Zum Beispiel, wie sich seit Wochen ukrainische Angriffe auch auf russischem Gebiet mehren – mit US-Waffen und US-Plazet. Zum Beispiel das Nichteinhalten der Minsk-II-Vertrags von 2015, der Kiew dazu verpflichtet hat, Regionen in der Ostukraine eine weitgehende Autonomie zuzugestehen …
Seit Monaten treibt Selenski seine westlichen Partner vor sich her. Wer nicht liefert, wird als angeblicher Putin-Freund gebasht. Selenski spielt mit dem Feuer, und der Westen spielt wie paralysiert mit.
Liefern, liefern, liefern … nach dem Marder gleich noch den Leopard … Wollt ihr den totalen Krieg? Jaaaaa!  Solange die anderen darin umkommen.

Gewalt, AfD und die DB

Donnerstag. Wir haben ein Gewaltproblem. Und dieses Problem ist direkt nach ca. 30 Jahren in der Politik und in den Medien angekommen – dank der Silvesterkrawalle in Berlin, Bonn, Stuttgart, Hannover, Hagen …
Die Normalos hat es längst erreicht, weil sie sich im Alltag konkret damit auseinandersetzen müssen: Mit meinen Kindern spielte ich Handlungsoptionen durch, wenn sie mal wieder vom Fahrrad gerissen und nach Geld abgesucht oder später im Stadtpark von Gangs körperlich attackiert oder angepisst worden waren (im wörtlichen Sinn). Es war die Zeit, in der selbst im beschaulichen Tübingen die Jugendlichen auf den Trichter kamen, sich auf dem Heimweg von Fußballplatz oder Musikschule lieber in einer Gruppe fortzubewegen als alleine. Es war die Zeit meiner 2-jährigen Ausbildung am Stuttgarter Literaturhaus: mehrmals wöchentlich führte mein Weg mich abends vom Ausbildungsort zum Bahnhof durch einen riesigen Teppich von jungen, feixenden Männern, die aggressiv,  anbaggernd und Angst machend jede Frau terrorisierten, die an ihnen vorbei musste.
Heute ist nix mehr mit Feixen. Heute wird mit der Knarre in Polizeiautos und Notarztwagen geballert, bevorzugt an Silvester in den Großstädten. Leute mit Böllern beschießen, Brandanschläge, Straßenschlachten – der Krieg gegen Polizisten und Rettungskräfte als Stellvertreter des Rechtsstaates ist längst kein Einzelfall mehr. Die Domplatte von Köln war der Vorgeschmack. Ohne die massenhaften Anzeigen der betroffenen Frauen wäre auch dieses Schock-Ereignis im Sand verlaufen.
Die Täter der Berliner Randale sind festgenommen – und freigelassen. Warum wirkt der Staat so seltsam gelähmt? Warum erschöpfen sich die Maßnahmen führender Politiker*innen wie Berlins OB Giffey in Appellen und Aufrufen zu sog. Diskussionsrunden?
Jeder ist in solchen Fällen auf sich selbst gestellt, dieses gefährliche Bewusstsein hat sich längst in der Bevölkerung ausgebreitet. Die Tatsache, dass es sich bei den “jungen Männern” mehrheitlich um junge Araber oder junge Deutsche mit arabischem Migrationshintergrund handelt, die unserem / ihrem Staat nicht gerade zugeneigt sind (die Gründe sind eine andere Debatte), wird öffentlich nicht thematisiert; wahrscheinlich aus der panischen Angst heraus, damit der AfD ein Argument zuzuspielen. Dabei kann man, mit jedem Beitrag über die jüngsten Ausschreitungen mehr, den Zähler tickern hören: Es ist gerade das Nicht-Thematisieren, Vertuschen und Verdrängen, was der AfD in großen Schüben Stimmen einträgt. Es ist das Nicht-Thematisieren einer falschen, aus dem Ruder gelaufenen Migrationspolitik – die zudem noch vollkommen unverständlich ist angesichts der jährlich neu hinzukommenden 200.000 Migrant*innen und im vergangenen Jahr 1,1 Millionen Kriegsflüchtenden aus der Ukraine.

Statt dessen wird jetzt eifrig ein Nebenschauplatz beackert: Die Maskenpflicht! Die Coronamaßnahmen, die in ganz Europa beendet sind, bloß nicht in Deutschland! Die bösen Chinesen mit ihrer Lockdown-Aufhebung! Warum? Chefvirologe Professor Drosten hat das Ende der Pandemie ausgerufen, aber in unseren Zügen wird weiterhin im Halbstundenrhythmus das Tragen der FFP2-Maske per Lautsprecher angemahnt, während die Züge selbst inzwischen zu fast 100 % (ich fahre sehr viel Bahn) zu spät kommen, ausfallen, auf offener Strecke liegenbleiben.

Die DB als Abbild der BRD – verstrickt im sinnlosen Kampf um die Maskenpflicht – und die Chinesen als die neuen Buhmänner. Besser kann man die Leute nicht von den eigentlichen Themen abhalten.

Flickwerk

Mittwoch, Werne. Eine Beerdigung zu organisieren, ist auch eine Form von Abschiednehmen. Seit Montag damit in Werne beschäftigt. Diese Tage haben so viele Aspekte. Ich schwimme mitten hindurch, und so entsteht ein rätselhaftes Flickwerk. Das schäbige teilanonyme Grab, das mein Vater für sich gewollt hat. Die Stelle daneben, die meine Mutter nicht bekommt (zum Glück). Die städtische Friedhofsordnung. Die Bestatterin mit ihrem pausenlosen Geschwätz. Telefonieren mit Bruder und Schwester, wieder und wieder. Terminverschiebungen. Die Lebensklugheit der langjährigen Betreuerin. Der Gang auf die Ämter. Die Blumenhändlerin, die durch mich hindurchsieht. Die Anzeige, die Karten, das Foto für den Altar. Der Spirituosenladen mit dem besten Limoncello der Welt (kleine Fluchten).  Die alte, zerfallene Schule – fürs letzte Jahr & Abi nach meiner Rückkehr ins Elternhaus –, an der ich mit  meiner alten Schulfreundin I. vorbeifahre. I’.s Zuversicht selbst in den allerbeschissensten Lebenslagen. Der gemeinsame Abend beim Griechen. Mein Hotelzimmer mitten in der Fußgängerzone. Wie eine Nussschale das weiche, weiße Bett. Nachts fällt durch die hohen Fenster der Schein von Lichterketten. Weihnachtsbeleuchtung. Kein Mensch unterwegs. Frühe Geräusche, ein Müllauto, ein Rufen. Dann wieder Stille auf dem kleinen, rechteckigen Marktplatz mit den herausgeputzten Häuschen. Der Tod eines Menschen zeigt die Lücken im gemeinsamen Leben auf. Viele Erinnerungen, aber noch viel mehr Lücken. Zwei Tage in Werne bringen mich meiner toten Mutter näher, als ich der lebenden je gewesen bin.

Und viel Freundlichkeit und Hilfe erfahren. Nun warte ich gespannt auf den Anruf eines oder einer Pfarrer*in. Allen Dreien habe ich immerzu hinterhertelefoniert, vergeblich: Sieben Jahre lang hat keine(r) von denen auch nur ein einziges Mal seinen Arsch in Richtung Altenheim bewegt. Für ein konsequentes Familienmitglied ein Grund zum Kirchenaustritt. Mama war, solange sie konnte, eine treue Kirchgängerin, Kirchensteuerzahlerin und extrem großzügige Spenderin. Weil ich die drei nervte, begannen sie irgendwann das Kirchenblättchen zu schicken (das Mama nicht lesen konnte). Das war für die easyer so.