Im Zug

Zwischen EA und TÜ. Ich schnappe mir einen der beiden für DB-Vielfahrer vorbehaltenen Plätze. Wenn hier eine richtig viel fährt, dann ja wohl ich, auch ohne  Bahncard 100. Befinde mich auf dem Weg nach Tübingen, wo das “Amt” ruft. Es ruft nur noch leise, zwei Tage die Woche. Was für eine Wohltat! Der innere Abstand wächst zunehmend, je mehr die Arbeit am Buch zunimmt.
PM und ich, wir waren fleißig in den letzten Tagen. Stundenlanges Schrubben, jede der 72 Marmorfliesen einzeln mit Spatel und Topfschwamm vom jahrzehntealten Dreck und Bohnerwachs befreit. Danach waren sie drei Nuancen heller. Was für eine Überraschung!
Langsam wird es wohnlich. Viel Arbeit, die aber Spaß macht. Am Abend stellt man sich in die Tür und spürt den Erfolg als ein warmes Rieseln im ganzen Körper.
Mein Koffer ist ganz prall, passt kaum noch zwischen die Sitze. In Eisenach war ich shoppen, ein paar giftgrüne Teile und eine schwarze Lederjacke. Es gibt da genau diesen einen Laden. Was für eine Auswahl!
Calla Henkel ist die Königin des Vergleichs. Ihr Debutroman Ruhm für eine Nacht fesselt mich schon seit Tagen mit seiner Bilderflut. Kleine Kostprobe:
“Die Beleuchtung bestand aus einer Reihe spinatgrüner unter Satellitenschüsseln festgeschraubter Glühbirnen, in deren Licht die hölzernen Barhocker wie widerspenstige Quallen wirkten.”
“Ohne Vorwarnung überfiel mich ein heftiger Orgasmus – wie ein Sonderkommando der Polizei, das eine Vorstadttür sprengt.”
Ein wilder Krimi und Partyroman. Fährt unter feministischer Flagge – ohne Genderspeach.

Und wieder eine weg …

Nun hat’s die Bonner Politik-Professorin Ulrike Guérot erwischt: Warum es in Deutschland gefährlich ist, seine Meinung zur Friedenspolitik, zu Waffenexporten an Kriegsparteien und zum Ukraine-Krieg offen kundzutun – Guérot war eine der Erstunterzeichner*innen des Manifests für Frieden von Schwarzer/Wagenknecht. Soviel zur Meinungs- und Pressefreiheit, nein, zu immer unverhohlener verpassten Maulkörben in unserem ach so demokratischen Weiße-Westen-Land …

Demo in Berlin

Samstag, Eisenach. Mehr als 50.000 marschieren mit Wagenknecht und Schwarzer – während Polizei und Presse die Zahl der Teilnehmer*innen auf 13.000 runterreden und die Veranstaltung samt ihren beiden Protagonistinnen in die rechte Ecke zu framen versuchen.
Kann man 50.000 Menschen, die sich bei Kälte und Schnee nach Berlin aufmachen, um ihre Meinung kundzutun, allen Ernstes Rechtslastigkeit unterstellen? Wie lange will die Ampelregierung den Willen eines Großteils der Bevölkerung noch ignorieren?

Arbeitsbericht

Dienstag, Eisenach. Heute gehts nach Berlin, wo ich morgen den äußerst unterhaltsamen Großgewinn-Berater der Deutschen Klassenlotterie Berlin interviewen darf.
Freue mich, nach fleißiger Recherche, sehr auf ihn.
Und auf ein Wiedersehen mit meiner Freundin Dorle, die ja inzwischen in Berlin lebt und bei der ich übernachten darf.

Phosphorbomben für den Frieden

Das mutige Manifest für den Frieden von Wagenknecht/Schwarzer stößt bei den Regierungspolitiker*innen auf heftige und, wie man sieht, ziemlich irrationale Ablehnung.
Ihr Hauptargument: Verhandlung seien gut und schön, aber Putin sei eben nicht verhandlungsbereit. Das hören wir in den letzten Tagen immer wieder. Heute lese ich dagegen, dass die Ukraine Gebietsabtretungen an Russland für Frieden nach wie vor kategorisch ablehne.
Darüber hinaus forderte der ukrainische Vizepräsident Olexander Kubrakow auf der Münchner “Sicherheits”konferenz am Freitag Phosphor-Brandbomben und Streumunition! Waffen also, die völkerrechtlich geächtet sind. Und deren Einsatz durch die USA im Irakkrieg katastrophale, bis heute wirkmächtige Schäden an Menschen und Umwelt ausgelöst hat.
Wo bleibt der internationale Aufschrei?
Des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba
hintersinniges Argument: Die Ukraine sei ja keine Vertragspartei des Übereinkommens über das Verbot von Streumunition: “Rechtlich gesehen gibt es dafür also keine Hindernisse. Und wenn wir sie erhalten, werden wir sie ausschließlich gegen die Streitkräfte der Russischen Föderation einsetzen.”
Wie beruhigend.

Arbeit und Struktur

Sonntag, Eisenach. PM und ich offenbaren uns gegenseitig beim Frühstück, wie schwer es uns fällt, unser eines Bein jeweils aus unseren bisherigen Standorten zu ziehen. Tübingen und Bad Neuenahr, während unser anderes Bein noch etwas wackelig in Eisenach Fuß zu fassen sucht. Ich bin sehr erleichtert, dass es ihm genauso geht. Und dass wir es uns sagen können.
Wir müssen daran arbeiten, sagt PM. Den Anfang mache ich heute mit der Küche. Die ist zwar inzwischen voll eingerichtet, aber mittlerweile in einem chaotischen Zustand. Überall sind noch die Handwerker zugange, Putzen & Aufräumen kommt mir vor wie zwei Schritte vor, einer zurück. Das ist unökonomisch und motiviert nicht gerade.
Wie weit lassen wir uns auf unser neues Zuhause ein? Oder, runtergebrochen ins Konkrete: Wann entscheiden wir, was in welche Schublade kommt? Nur davon hängt ab, wie schnell wir hier eine Struktur reinkriegen.

Leben, Arbeit und die Kalligraphie

Dienstag. Wir haben unsere Mutter beerdigt.
Nun hat sie es “hinter sich”, eines ihrer geflügelten Worte. Sie hat ein ganzes Jahr darauf gewartet. Dann darf man wohl gehen.
Bei aller Anspannung meinerseits – ich war für den Ablauf verantwortlich – ging es peaceful und sogar harmonisch zu. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn die Eltern gestorben sind, erst recht nicht in meiner Familie.
Familie ist okay. Familie ist wichtig. Man gehört dazu, das ist der Punkt. Man braucht nicht darüber nachzudenken. Drei Tage war ich in NRW / Werne, anschließend mit meiner lieben L. nach Köln, wo ich eine Nacht in ihrer WG übernachtet habe.
Sie sind zehn Mitbewohner, mit dem L.chen und dem T.chen. Eine Riesen-WG in einer echt schrägen Wohnung direkt am Kölner Dom. Wie eine Familie, sagt L. Ich glaube, ich verstehe immer mehr ihre Art zu leben, bei aller Beunruhigung, die sie von Zeit zu Zeit bei mir auslöst. Um neun Uhr – L. hat die Kinder schon weggebracht – öffnet sie das Küchenfenster: Hör mal, sagt sie, das höre ich jeden Morgen. Das ist schön.
Die Rathausglocken spielen Die Gedanken sind frei. Was bedeuten meiner Tochter dieses Lied und dieses morgendliche Ritual? Sie sieht für einen Moment glücklich aus und so mit sich im Reinen. Das berührt mich sehr. Es ist schön, sie da so sitzen zu sehen.
Von Köln ging es heute Morgen nach Eisenach weiter, wo ich mich für einen Kalligraphiekurs angemeldet hatte. Die Kalligraphie scheint in Eisenach eine besondere Rolle zu spielen. Es gibt zwei konkurrierende Unternehmen der Schönschreibkunst: Das Atelier Wagner in der Marienstraße und die Werkstatt Husemeyer im Luther-Haus. Ich war bei Letzterer. Ich bin da nicht besonders talentiert, hauptsächlich hat es mir wg. der Kalligraphin Spaß gemacht. Sie ist sehr vielseitig; einer ihrer Interessenschwerpunkte ist die jüdische Kultur in Eisenach. Sie hat viel mit Avital Ben-Chorin zusammengearbeitet, die in Eisenach geborene Frau des berühmten Schalom Ben-Chorin. Darum beneide ich sie, ich möchte alles über Avital erfahren. Die Kalligraphin ist mit einem Syrer liiert, das macht die Sache so richtig spannend. Ja, und dann gibt es da noch den Calligraphy Cut, eine besondere Schnitttechnik, die ein hiesiger Friseurmeister ersonnen und sogar das Patent dafür erworben hat. Es gibt so abgefahrene Leute hier, das ist immer wieder eine Offenbarung.
Morgen geht’s nach Tübingen zurück, und dann weiter nach Ludwigsburg, wo das nächste Interview stattfindet. Und die Woche darauf nach Berlin …

Erzähle deine Geschichte

Super sehenswerte TV-Doku von Ulf Kalkreuth:
“Erzähle Deine Geschichte” – die DDR in 30 Begriffen.
Entlang von 30 Begriffen, die es nur in der DDR gab, erzählen 10 Protagonist*innen von ihren Erinnerungen an die damalige Zeit und ihr Leben in der DDR.
Schöne Idee! Bewegend und bei aller Unterschiedlichkeit total nachvollziehbar.
U.a. mit dem grandiosen Norbert Bisky und vielen anderen …

Menschenleben

Freitag. Das ist alles so widersprüchlich, dass ich darüber kaum nachdenken kann, ohne verrückt zu werden.
Zuerst hieß es 700 Tote, das war schon angesichts der ersten Bilder unglaubwürdig. Dann hieß es 7000, später 20.000, und als ich am nächsten Tag im “Amt” eine frage, deren Familie aus der Türkei stammt, sagt sie, ihr Vater schätze die Zahl der Toten eher auf das Dreifache.
Sie macht einen Aufruf, bittet um Kleiderspenden, warme Sachen, Parker, Pullover, Mützen, auch Toilettenartikel. Aus der türkischen Community hat sich sofort jemand gefunden, der die Sachen nächste Woche mit einem LKW ins Erdbebengebiet bringt. Jeden Tag neue Horrorgeschichten, neue Bilder von Hochhäusern, die wie Kartenhäuser zusammenklappen, von Betonruinen, soweit das Auge reicht. Gestern haben Retter ein Neugeborenes aus dem Schutt gezogen, das war noch durch die Nabelschnur mit seiner erschlagenen Mutter verbunden. Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal gab es auch solche Geschichten, die waren zu schlimm, als dass man sie sich laut erzählt hätte. Die erfuhr man erst zu nächtlicher Stunde, wenn die Zungen sich lösten, im Flüsterton. Das Erdbeben, das ein riesiges Gebietes zwischen Türkei und Syrien erfasst hat, bringt tausende solcher Geschichten zutage.
Heute wurde von einem deutschen Helferteam eine Frau gerettet, die vier Tage unter den Trümmern ihres Hauses ausgeharrt hatte. Die Helfer bohrten ein Loch in die Mauer, hinter der sie lag,  und versorgten sie mit Wasser. Tagelang sprachen sie ihr Mut zu, indem sie sich Zentimeter um Zentimeter vorarbeiteten, bis sie die Frau endlich unbeschadet herausholen konnten.
Nach der erfolgreichen Rettung weinen alle, die Anspannung fällt von ihnen ab. Sie haben 100 Stunden um das Leben einer einzigen Verschütteten gekämpft, jede, die dieses Unterfangen mitverfolgt, empfindet Erleichterung und Freude mit ihnen.
Die Bilder von der Rettung der Frau über viele Tage unter unvorstellbarem Einsatz der Rettungskräfte stehen für den Wert eines Menschenlebens – nichts auf der Welt ist mehr wert. Während in einem anderen Teil der Erde sich zwei Völker gegenseitig totschlagen und die deutsche Regierung die Panzer dafür liefert.

Das Wort Frieden hört man sehr wenig

Kanzler Scholz ist nach Brasilien gereist. Es geht um den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, um Rohstoffe und natürlich um den aktuellen Krieg, zu dem Lula da Silva eine deutlich differenziertere Position als die Ampelregierung hat.
Am 30. Januar fand eine Pressekonferenz von BK Scholz und Präsident Lula da Silva statt:

Präsident Lula, an Sie die folgende Frage: Sie haben vergangenen Mai in einem Interview gesagt, der ukrainische Präsident Selensky sei genauso verantwortlich für den Ukrainekrieg wie der russische Präsident Putin. Sehen Sie das heute immer noch so?
Im Zusammenhang damit die nächste Frage: Brasilien verfügt über Gepard-Flakpanzer und Leopard-Kampfpanzer aus deutscher Produktion sowie über größere Munitionsbestände. Wären Sie bereit, diese Panzer und die Munition an Deutschland zu verkaufen, damit Deutschland sie an die Ukraine weitergeben kann?

P da Silva: Zuerst möchte ich über das Munitionsproblem sprechen. Brasilien hat kein Interesse an einem Verkauf von Munition, die in dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland benutzt werden kann. Wir sind ein Land, das dem Frieden verpflichtet ist. Der letzte Krieg, den wir geführt haben, war der Paraguaykrieg im 19. Jahrhundert. Wir wollen nicht einmal eine indirekte Teilnahme an einem Krieg. […]

Brasilien hat den Entschluss gefasst, keine Munition zu verkaufen, weil wir nicht wünschen, dass die Munition in diesem Krieg verwendet wird.

Ich habe nicht genau verstanden, warum dieser Krieg begann. Es wurde immer gesagt, dass die Nato zu nah an Russland habe herankommen wollen. Die Russen waren nicht daran interessiert. Darüber hat ja auch Papst Franziskus gesprochen. Heute bin ich mir etwas klarer. Ich glaube, dass die Russen einen krassen Fehler begangen haben. Sie sind in das Hoheitsgebiet eines anderen Landes eingebrochen.

Aber wir sagen in Brasilien: Wenn einer nicht will, dann streiten zwei sich nicht. – Ich habe das Wort Friede in der internationalen Diskussion sehr wenig gehört. Deswegen plädiere ich für die Einrichtung einer anderen Organisation, um den Frieden auf den Weg zu bringen. Leicht ist das nicht, das weiß ich. Denn wenn es leicht wäre, dann hätte man das schon geschafft. Man weiß, wie solch ein Krieg anfängt, man weiß aber nicht, wie er aufhört. Ich habe Herrn Scholz daran erinnert. Saddam Hussein hat die Zerstörung des Iraks durch eine Lüge ermöglicht. Er hat die USA dazu gebracht, zu glauben, dass er chemische Waffen hätte. Ein brasilianischer Diplomat, der Generaldirektor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen war, hat gesagt, der Irak habe keine chemischen Waffen. Dann sind die USA dort eingebrochen. Saddam Hussein wurde gehängt, und bis heute gibt es keinen Beweis.

Der Grund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine muss auch klarer werden. Ist es wegen der Ukraine? Ist es wegen territorialer Ansprüche? Wir haben wenig Informationen darüber. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich nach Kräften helfen werde. Falls ich mit Putin und Selensky sprechen muss, werde ich überhaupt keine Schwierigkeiten damit haben. Wir müssen eine Gruppe einrichten, die am grünen Tisch als Verhandlungspartner respektiert wird. Ich weiß ja nicht, wann dieser Krieg aufhören wird, wenn wir weiterhin so untätig bleiben. Das ist meine Antwort auf die Frage.