Fuck the Future, Willkommen im Augenblick

Freitag. … eines dieser zufälligen Küchenmeetings: Steve macht sich seinen Kaffee mit der Kaffeemaschine, ich bin an meiner Schoko-Spezialmischung und Karina trinkt ihren Kaffee aufgebrüht, ist aber schon fertig und spült ihre Sachen mit der Hand ab, weil sie Spülmaschinen-Tabs für Gift hält. Es riecht so gut, das Dasein ist leicht wie Watte, fuck the future, Willkommen im Augenblick, was mal wieder beweist, dass alles eine Sache der Perspektive ist. Durchs Fenster dringt Morgendämmerung, das stimmt mich froh, denn meine Fahrradlampe ist kaputt. Steve hat’s von seiner Prüfung. Karina weiß noch nicht, ob ihr Seminar zustande kommt. Und ich muss auch gleich los. Ich mag die beiden. Sie mich auch, glaube ich. Ich mag ihre Anwesenheit, ihre dosierte Geselligkeit. Just einer dieser seltenen Momente, in denen ich denke: Yo, alles richtig gemacht!

Macho & Chica

Vermeide Gängiges, vermeide Klischees. Falle Nr. 1 beim Schreiben und im Leben. Oder tritt sie so breit aus, bis dir übel wird. Manchmal mag ich Klischees. Das ist wie nach Hause kommen. Beim Klischee kennst du dich aus, weißt wie es funktioniert. Und, hey!, genauso funktioniert es wirklich. Die Überraschung liegt in der Erfüllung des Erwarteten. Klischees sind pure Bestätigung. Sie enttäuschen dich nie. In der Mühlstraße gibt es einen italienischen Klamottenladen, Macho & Chica. Entsprechend sind die Klamotten. Der Chica nimmt man nichts krumm, dem Macho auch nur wenig. Hallo?, die sind Klischees! Die müssen so sein! Sei selber mal ein Klischee, dann weißt du, wie voll krass hart das ist –

Im Dom

Sonntag, Erfurt. Noch drei Stunden, bis mein Zug geht. Seltenes Gefühl: Ich habe ZEIT.

Im Dom nimmt einer donnernd die Orgel durch. Ein Klangteppich – dagegen sind Colosseum und Jethro Tull und Status Quo zusammengenommen Waisenkinder. Sollte dieser Organist stinksauer gewesen sein, müsste es ihm jetzt besser gehen. Direkt unter ihm, in der Bank, spüre ich jeden einzelnen meiner Knochen und sämtliche Eingeweide. Andere Dombesucher stehen wie angewurzelt auf der Stelle. Wenn jetzt alle auf einen Schlag zu weinen oder zu schreien oder übereinander herzufallen anfingen, würde mich das kein bisschen wundern.

Hauptfriedhof

Samstag, Erfurt. Nun weiß ich also, wie man am Samstag vor Totensonntag der Toten gedenkt ohne jegliche religiöse Rückbindung. Für mich sehr strange. (Erst am anderen wird der eigene Standort deutlich wie nie.)

Mein Text kommt gut an. T. hat mir ein phänomenales Hustenmittel empfohlen, mit dem man wirklich über die Runden kommt. Er hat damit schon Konzerte bestritten, bei mir geht es nur um zehn Minuten lesen.

Danach zeigt der Veranstalter mir den Erfurter Hauptfriedhof, den ganzen!, und der ist wirklich riesig, indem wir einfach überall mit seinem Auto rumcruisen – die entsprechende Lizenz  hat er vorne an der Windschutzscheibe kleben. Manchmal  geht’s  auch rückwärts weiter, wenn ein Grab plötzlich den Weg versperrt. Er kennt den Friedhof sozusagen wie seine Westentasche (darüber trägt er einen maßgeschneiderten Gehrock.)

Das Interview machen wir dann in einem seiner Büros. Er ist ein Organisationsgenie. Er weiß Verbindungen zu knüpfen, kennt Hinz und Kunz, weiß viel, hilft gerne, wenn die Sache / die Person ihn überzeugt, hat schon einiges ausprobiert, hat klare Vorstellungen, klare Meinungen sowieso, ist Perfektionist, legt Wert auf die richtigen Worte…

… mit so einem kann es nur gut werden.

Am Abend kommt auch PM im Hotel an. Dienst, Elternbesuch in Eisenach, lange Fahrt, er ist k.o. Außerdem hat Gladbach verloren, was ihn schwer deprimiert, was er aber bestreitet. Treffen mit Freunden in einem urigen Gasthaus: Es gibt Gans, handgemachte Thüringer Kartoffelklöße, Rotkraut, und – Aromatique. Alles ganz farrrrbelhaft!

Arbeits-WE

Ankunft Erfurt, Einchecken im Mercure, Blick auf die alte Kaufmannskirche, Stadtbummel, ein bisschen was zu trinken kaufen. Noch einmal den Text durchgehen, den ich morgen in Erfurt auf einer Gedenkveranstaltung lesen werde. Motto: Dem Gedenken einen Namen geben.

Bettlektüre: Die Korrekturen, mit über zehnjähriger Verspätung. Franzen seziert Psychen, und an manchen Stellen erkennst du dich wieder, dass dir das Herz stehen bleibt. Anstrengend. Noch halte ich durch …

Klein

Freitag. Klein aber oho. Klein aber fein. Auch kleine Dinge können uns entzücken? Klein ist doof. Zu klein ist schlimmer als zu groß. Gibt es zu groß überhaupt? Diese Jeans ist mir zu groß – okay, nicht gut. Aber: Dieses Haus ist eigentlich viel zu groß für uns – was sonst als Jammern auf hohem Niveau?

“Dann stell ich mich klein und dumm”, war die Essigessenz aller eingelegten Lebensweisheiten meiner Mutter. Ich wollte also groß und klug werden. Groß und klug war sozusagen ein Synonym. Erwachsene waren nicht dumm. Sie waren vielleicht gemein, verlogen, eigennützig, aber dumm nur, wenn sie sich so stellten.

Bis mich Herr Grabert, mein Grundschullehrer, eines Besseren belehrte. Herr Grabert war groß, dick und sehr dumm. Er schrie ins Telefon, das in unserem Klassenzimmer stand, bis er wie in violette Farbe getaucht aussah. Er stellte seine sabbernde Dogge vor uns auf, da blieb sie stehen wie ein scharfes Geschütz. Er behauptete, das Sauerland heiße Sauerland, weil den Bauern an den steilen Hängen die Arbeit so sauer wird.

Sofort glaubte ich ihm nicht. Er war nur zu blöd zuzugeben, dass er es nicht wusste – ich hatte ihm die Sauerland-Frage gestellt – und dumm genug, sich seine Antwort selbst zu glauben. Vielleicht hielt er sie gar für eine Eingebung, er lachte, als er sie sagte, und sonst lachte er nie. Er war stolz auf seine dumme Antwort.

Meine Eltern lachten auch herzlich über die kleine Anekdote. Na bitte. Herr Grabert war dumm und brachte damit mein Weltbild durcheinander. Später kamen noch mehr Große dazu, die dumm auf mich wirkten. Ich fand, sie hatten kein Recht auf Dummheit. Wer groß ist, muss klug sein oder klug werden. Daran lässt sich doch arbeiten. Und wer klein ist? Der muss sich groß stellen. That’s the Point.

 

(Schreibübung: “Klein”)

Lachen light

Sonntag. Mit Willkommen bei den Hartmanns von Simon Verhoeven hast du einen entspannten und amüsanten Kinoabend. Mir ist es jedenfalls so gegangen. Der Film ist lustig. Er ist deutsch. Er tut niemandem weh, er überschreitet keine Grenzen.

Wir Deutsche schwanken ja immer zwischen Ja, aber und Nein, obwohl. Mit dem Standpunkt-Beziehen haben wir es nicht so. Klare Ansagen empfinden wir als unangemessen. Fünfzehn Jahren knallharter Nazisprache, deren Gewitterleuchten bis weit in die Siebziger reichte, zeigen immer noch ihre Wirkung. Die Abgrenzung vom Faschismus mit seinen pöbelnden Parolen hat vor über fünfzig Jahren die Maßstäbe gesetzt für eine neue Ära der Kommunikation, die sich vor allem im politischen Diskurs niederschlug – wobei der Begriff politisch eine universelle, auch das Private umfassende Bedeutung bekam, auch das war neu.

Sprachlich sind wir vorsichtig bis zur Leisetreterei geworden. Das ist vielleicht bedauerlich, doch historisch notwendig. Wir runzeln lieber erstmal die Stirn (Ja, aber …). Das betrifft sogar non-verbale Äußerungen, oder wie sonst ist es zu erklären, dass der Stinkefinger, den Sigmar Gabriel im Sommer dieses Jahres einer Gruppe von Rechtsradikalen zeigte, ein mittleres politisches Erdbeben auslöste? Journalisten und Kommentatoren fielen vor Schreck fast in Ohnmacht, und auch in der Öffentlichkeit kam diese Aktion gar nicht gut an. Der Stinkefinger war ganz klar eine Grenzüberschreitung!

Das ist deutsch. Genau das ist der Grund, weshalb ein Film wie Ziemlich beste Freunde sehr wohl in Frankreich, jedoch niemals in Deutschland gemacht werden kann. Die Komik – und damit der Erfolg – von Ziemlich beste Freunde liegt in der affektiven verbalen und gestischen Umsetzung einer momenthaften Emotion, ohne kognitive Prozesse vorzuschalten – in diesem Fall eine Reflexion über political correctness. Für uns Deutsche unvorstellbar! Wir lachen, staunen, aber wir können das nicht.

Von eben der zwangsbeschränkten Denke, ergo Sprache, auf dem Hintergrund der Flüchtlingsproblematik, handelt der Film Willkommen bei den Hartmanns. Ist doch mal ein Anfang. Lachen light (gemacht)!

Ilse Aichinger

Samstag. Ilse Aichinger ist tot. Eine Autorin, von der viele (ich auch) dachten, sie sei schon längst verstorben – weil sie eine der Leisen war. Wie auch ihre Geschichten mit diesem typischen Aichinger-Sog. Wer hat keine Aichinger-Kurzgeschichte in der Schule gelesen? Zumindest das Fenstertheater kennt doch jeder, oder? In der 7. oder 8. Klasse hat man es zum ersten Mal gehört und dann, in der Langeweile des Vormittags, angefangen zu grübeln …

Zucchero und die Fledermäuse

Zucchero kommt nach Tübingen, und was passiert? Das Landratsamt begrenzt die Besucherzahl auf 5000!
Denn im Behördenviertel, wo der Sänger mit seiner Combo auftreten soll, sind Fledermäuse gesichtet worden.
Rockkonzert oder ein paar verschreckte Fledermäuse, das ist hier (mal wieder) die Frage.
Vor einigen Jahren war ich auf einem der – aus demselben Grund äußerst raren – Konzerte im Tübinger Schlosshof. Überall in den Fensternischen hockten die mit ihrer Tierschützertechnik ausgestatteten Fledermauspat*innen und sahen schon selber aus wie welche: Headsets auf den Ohren, Richtmikros und Laptops auf dem Schoß, um jede noch so kleine Regung der Tierchen zu messen und zu analysieren. Ergebnis der Untersuchung: Nichts! Keines verdünnisierte sich. Alle blieben sie in dem Gemäuer hängen und ließen das Konzert ungerührt über sich ergehen.
Schlage Paradigmenwechsel vor: Vielleicht kommt Musik bei Fledermäusen ja richtig gut an?