Sonntag, Kiel. Ich öffne das Fenster einen Spalt breit und höre Möwen schreien und Spatzen zwitschern.
Ich bin in Kiel bei meinem Bruder. Mein kleiner Bruder und meine große Schwester. Geblieben ist mir mein kleiner Bruder.
Wir reden viel miteinander. Wir sind sehr unterschiedlich. Manchmal hapert es noch mit der Akzeptanz, doch wir lernen beständig dazu.
Weil wir uns wichtig sind.
Ich bewundere das perfekte Haus. Die perfekte Sauna mit LED-Lämpchen und -Strahlern an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Ich bewundere die goldene Designerlampe und den Riemenboden aus Eiche. Den Fernseher mit dem perfekten Sound, geboostert von einem perfekten Lautsprecher.
Ich fühle mich nicht klein. Ich denke an unser Häuschen in Eisenach mit all seinen Unperfektheiten. Es gibt für alles Gründe. Für Perfektheit und für Unperfektheit.
Ich danke meinem kleinen Bruder für seine Fürsorge. Als ich am Donnerstag ankomme, holt er mich ab und hat ein Abendbrot für mich vorbereitet. Am nächsten Morgen hat er Bio-Brötchen geholt und wir frühstücken. Ich habe einen Interviewtermin in Hamburg mit Professor Mojib Latif und mir ist schlecht. Um Punkt neun Uhr, direkt nach dem Frühstück, wird mir schlecht.
Mein kleiner Bruder fährt mich zum Bahnhof. Ich habe mein Handy vergessen, außerdem krümme ich mich vor Schmerzen. Ohne zu murren, wendet er.
Ist besser so, denke ich. Der nächste Zug reicht auch noch. Vielleicht gehen die Bauchschmerzen gleich vorbei, und das Handy brauche ich.
Entspann dich mal, sagt mein kleiner Bruder, als wir eine halbe Stunde später wieder in seinem Auto sitzen. Er sieht mich von der Seite an: Dir kann doch nichts passieren. Du bist perfekt vorbereitet (ja, auch ich habe meine perfekten Seiten), und jetzt hast du auch alles dabei.
Ich habe eine Tablette eingenommen. Der Zug entfällt, und der nächste Regio nach HH stoppt einfach mal in Neumünster. Alle Passagiere müssen raus, Reparatur am Zug! Als ich endlich in HH bin und schließlich die Akademie der Wissenschaften erreiche, bin ich tatsächlich immer noch superpünktlich.
Der Meteorologe und Ozeanologe Latif, auch Klimapapst genannt, ist ein leiser, sehr freundlicher Mann mit einem unvorstellbaren Wissen. Ich sage zu ihm, nach dem Studium seiner Bücher zu urteilen, sei er außerdem ein Mathematiker, Physiker, Chemiker, Soziologe, Psychologe, Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph …
Ja, das Thema lasse sich nicht monokausal betrachten, antwortet er bescheiden.
Professor Latif ist nicht nur bescheiden und höflich und allwissend. Er ist das, was in meinen Augen ein anständiger Mensch ist.
Ich ziehe ein Ticket und steige in den Zug zurück nach Kiel. Kaum habe ich in dem Gedränge einen Platz gefunden, muss ich ihn auch schon wieder verlassen. Mir ist so übel, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Für den Rest der Fahrt schließe ich mich in der verdreckten Zugtoilette ein und übergebe mich gefühlt fünfzig Mal. Dauernd klopft einer und fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei.
Nein. Kann ich so nicht sagen. In Kiel steige ich aus und renne direkt ins nächste Bahnhofsrestaurant. In die Toilette.
Mein kleiner Bruder holt mich ab. Er sieht mich unglücklich an. Vor seiner Haustür gehe ich in die Knie, ich kann nicht mehr stehen.
Geh sofort in die Klinik, sagt PM am Telefon. Mein kleiner Bruder fährt mich in die Notaufnahme der Uniklinik. Ich muss mich dauernd übergeben und kann nur noch auf dem Boden hocken. Ich komme an den Tropf. Mein kleiner Bruder fährt nach Hause, wo er, wie er mir später erzählt, die ganze Nacht in Hab-Acht-Stellung halbwach liegt und, von üblen Träumen begleitet, auf meinen Anruf wartet, um mich wieder abzuholen.
Daraus wird nichts. Nach acht Stunden im Untersuchungszimmer, es ist fünf Uhr morgens und die Möwen erwachen demnächst, komme ich auf die Station. Mittlerweile weiß ich, dass ich eine Gallenkolik hatte. So ein hässliches Wort. Ich fasse es nicht. Und danke dem lieben Gott, dass er mir ein Zeitfenster exakt für die Dauer des Interviews mit Professor Latif eingeräumt hat.
Auf der Station passiert nicht mehr viel. Die Visite entlässt mich mit der o.g. Diagnose, aber ich kann noch nicht gehen. Der Arztbrief fehlt noch, so lange bleibe ich, dramatisch verkabelt, im Bett unter der flachen Krankenhausdecke liegen. Da geht die Tür auf und mein kleiner Bruder kommt herein. Die nächsten drei Stunden wartet er gemeinsam mit mir, bis der Arztbrief geschrieben, die Infusionsnadel gezogen und mein Beutel gepackt ist.
Am Abend gehen wir einkaufen, essen zusammen eine Kleinigkeit, reden. Er zeigt mir seine Sauna. Mein kleiner Bruder freut sich aufrichtig an schönen Dingen. Das mag ich, das kenne ich. Er erzählt von A., seiner Frau, die gerade bei der Tochter zu Besuch ist und nächste Woche zur anderen Tochter fährt.
Mein kleiner Bruder hat alles geschafft, was er jemals schaffen wollte. Das kann ich von mir nicht behaupten. In seiner Biografie fehlen die Brüche, Einbrüche, die meinen Weg markieren. Er ist viel zielgerichteter als ich. Er hat ein Motto: Wenn der Flieger überbelegt ist, bin ich es, der einen Platz bekommt.
Wir können nur bedingt voneinander lernen. Ich glaube, er und ich, wir mögen uns genauso, wie wir sind. Mein kleiner Bruder wird immer mein kleiner Bruder bleiben, aber er ist ein ganz Großer. Er ist, was in meinen Augen ein anständiger Mensch ist.