Ins Schwarze

Samstag. Wie mag das Lebens- und Weltgefühl eines mittelalterlichen Menschen ausgesehen haben?

Er wird im Wesentlichen sein Tagwerk verrichtet und ein Leben in Gleichförmigkeit geführt haben, ein Tag wie der andere, geprägt von Armut oder sogar Kampf um das Überleben, mit Wut über die Ohnmacht den Entscheidungsträgern gegenüber, mit Schmerzen, die nicht zu heilen waren, mit der Gleichgültigkeit, die aus dem immer gegenwärtigen Tod heraus entstand durch Krankheit oder Schwangerschaft oder Geburt des nächsten ungewollten Kindes, mit spärlicher Sinnstiftung durch die Kirche, mit Kirchenfesten und Dorfhochzeiten, die Helligkeit und Abwechslung brachten, wenigstens für kurze Zeit, um dann wieder zurückzufallen in das Einerlei – Tage, die einfach durchgestanden werden mussten, mit Härte sich selbst und anderen gegenüber.

Ein Leben wie im Blindflug. Der mittelalterliche Mensch wusste im wortwörtlichen Sinn nicht, wie ihm geschah. Was der Landesherr, der König, ja selbst der Lehnsherr entschied oder wieder verwarf oder wieder neu entschied, mehr oder weniger aus einem Bauchgefühl heraus, weil es ihm gerade passte oder weil es galt, ein Familienmitglied zu begünstigen oder einen anderen Landesherrn seiner Macht zu berauben, geschah ohne Mitwisserschaft des Volkes, es kam einfach über sie, die Bauern und Handwerker und Soldaten und Frauen und Kinder, die es mit Verwunderung, Hass oder Gleichgültigkeit aufnahmen und letztendlich mittrugen, weil sie nicht gefragt wurden und weil sie Angst vor Sanktionen hatten.

Immer wenn ich darüber nachgedacht habe, stellte ich mir dieses Leben sehr, sehr anders vor als unser, als mein von Menschenrechten, Demokratie und Meinungsfreiheit geprägtes Leben.

In den letzten Jahren bin ich mir da aber gar nicht mehr so sicher. Ob nicht auch unser, mein Leben mehr oder weniger ein Leben im Blindflug ist und wir einfach mitziehen, weil wir keine Alternativen sehen oder sehen wollen.

Menschenrechte?  Selbst die elementarsten? Was ist mit den Frauen in arabischen Communities in meiner direkten Nachbarschaft, die von ihren Ehemännern vollverschleiert durch die Straßen geschoben werden wie Möbelstücke, was ist mit den toten Zeugen im NSU-Prozess, was mit den Toten, die durch den IS fallen? Wo bleiben da der Schutz und die Urteilsfähigkeit des Staates?

Demokratie? Ich habe nicht mitentschieden, dass Deutschland sich an einem Krieg auf syrischem Boden beteiligt. Ich habe nicht mitentschieden, dass 1200 Deutsche vor einer Woche ihr Testament machen und abziehen mussten, um (angeblich) gegen den IS zu kämpfen. Neben allem anderen, was ich auch nicht mitentschieden habe – Rüstungsexporte, Kinderarbeit, gnadenlose  Ausbeutung der afrikanischen Staaten zugunsten unseres Wohlstandes, eine konfuse Bildungspolitik … – deprimiert mich dieser „unser“ Kriegseintritt ganz besonders. Weil ich mich ohnmächtig fühle. Weil ich in einer ZDF-Meinungsumfrage höre, dass angeblich 45 % der Deutschen diese Entscheidungen befürworten. Weil ich mir das nicht vorstellen kann oder weil ich es einfach auf eine unvorstellbare Uninformiertheit zurückführe. Weil die Medien auch nichts anderes mehr machen als politische Entscheidungen unkommentiert auf die Schreibtische und in die Wohnzimmer zu transportieren, anstatt sie mit Schärfe in Frage zu stellen, auseinanderzunehmen, unliebsame Fragen zu stellen, auch wenn es weh tut.

Meinungsfreiheit? Ja, ich kann sagen, was ich will. Ich kann es sogar veröffentlichen. Viele tun das. Wir haben unsere Seiten und unsere Profile und können unsere Meinung in die Welt hinaus schreiben und schreien. Ein Klick, und die Welt weiß Bescheid. Bloß hört die Welt gar nicht mehr hin. Man lässt die Meckerer schreien und nickt das ab. Es ist mit der Meinungsfreiheit so ähnlich wie mit der Konsumfreiheit. Ich kann kaufen und sagen, was ich will. Brot und Spiele. Das sind die Grenzen. Wer darüber hinaus was will, wer die Grundsatzfragen stellt, wer das System selbst infrage stellt, der muss sich schon richtig anstrengen. Snowden, Assange, die wissen, warum sie sich seit Jahren verstecken müssen. Da brauchen wir uns gar nicht über die islamistischen Kopfgeldjäger aufzuregen. Die gibt es bei uns auch.

Kann man sein Lebens- und Weltgefühl deuten, während man es lebt? Was ich merke, ist, dass auch ich mich ziemlich oft im Blindflug befinde. Dass auch ich mich auf geradezu mittelalterliche Weise ausgeliefert fühle. Funktioniert dieses System noch, wie es ist? Die hehren Werte der Aufklärung, auf die wir uns so viel einbilden und auf die wir vertraut haben, scheinen an ihre Grenzen zu kommen.

Ich hab das kürzlich geträumt. Ich saß am Steuer und fuhr ohne Licht auf einer unbeleuchteten Landstraße. Ich fuhr ins Schwarze rein, und da war nichts als Konzentration und ein winziger Funke Hoffnung, dass ich zufällig noch auf der richtigen Spur bin.

180 Grad

… und wenn ich in Remagen aussteige, steht da schon PM, ein blitzender Blick, dann dreht er sich auf den Fersen um exakt 180 Grad, immer macht er das und es sieht maßlos elegant aus, ein langer Schritt in die falsche Richtung – Zeitdehnung? – um sich sofort wieder umzudrehen, und ich laufe direkt in seinen Blick hinein. Der mit den Lachfältchen, endlich.

Von Weichholzmöbeln, Satzfragmenten und Schokolade

Donnerstag. Der Holländer* hat das Buffet gebracht. Genauer: Er hat zwei gebracht, heute Morgen stand er mit seinem Transporter um 7.00 Uhr vor der Tür, er baute sie beide unten im Hausflur auf und das, worauf meine Wahl dann doch relativ schnell fiel, trug er mit Steves Hilfe in meine Wohnung hoch.

Ein Prachtstück. Besser als der Vorgänger, ha!, Biedermeier, Weichholz, honigfarben gewachst, mit einem schön samtigen Schimmer. Eben ein richtiges altes, sehr altes Küchenbuffet.

Noch einen Kaffee getrunken mit dem freundlichen Typen, und weg war er wieder. Ab nach Holland. Aber zuerst noch an den Bodensee und nach Frankfurt, wie er uns erzählte. 1400 km an einem Tag, das macht er drei mal die Woche. Er lebt gut davon, von seiner Hände Arbeit, sozusagen. Schöner Beruf. Bei meiner Arbeit ist mir heute ein Text eingefallen. Versucht, mir einzelne Satzfragmente zu merken. Zwischendurch – mehr oder weniger heimlich – einiges aufgeschrieben, schwierig. Arbeit und Kunst, ein never ending problem mit unendlich vielen Individuallösungen.

In Tübingen ist Schokomarkt. Straßen und Geschäfte noch voller als sonst, engagiertes Gedränge wg. Schokolade, oh mein Gott! Leute mit viel Zeit stehen herum, stehen im Weg, gucken dumm, Schokobier, Schokocrepes, Schokobücher, Schokokörperbemalung. Schokototenköpfe …

 

(Golden ClassicsRick oude Voshaar. Denekamp, Nederland, sehr empfehlenswert!)

Großmächte

Dienstag. Wir halten fest: Deutsche Politiker maßen sich das Recht an, darüber zu entscheiden, welche Rolle syrische Regierungstruppen in Syrien im Kampf gegen den IS spielen sollen, während die halbe Welt völkerrechtswidrig und ohne UN-Mandat ihre Interessen in Syrien durchsetzt und den legitimen Präsidenten stürzen möchte. Politiker, ist das euer Ernst?

Von der Leyen: „Meine Position ist: es wird keine Zukunft mit Assad geben!“ – ist sie noch bei Sinnen?

Deutschlands Kurs zeigt, dass wir die geopolitischen Entscheidungen der USA nicht nur abnicken, sondern militärisch mittragen. Selbst der Grüne Hofreiter bläst in dieses Horn, „Assad rauszunehmen, eine Übergangsregierung zu schaffen“.

Tatsächlich unterstützen trotz zahlreicher Interessenlagen und großem Einfluss radikal-islamistischer Organisationen immer noch die meisten Syrer den legitim gewählten syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Damit wäre Assad auch bei einer neuerlichen Präsidentschaftswahl der Favorit. Und jeder andere Kandidat, der auch nur annähernd eine Chance hätte, wäre ein radikaler Islamist, der ein Kalifat nach saudischem oder IS-Vorbild errichten würde.

Waffenlieferanten für ‚moderate‘ und ‚hard-core‘ Rebellen in Syrien sind u.a. Deutschland, Großbritannien, Frankreich, die USA und Saudi-Arabien (direkt oder auf Umwegen) – und die Türkei unterstützt diese Terroristen offensiv.

Das sind nun genau die Länder, die über das weitere „Schicksal“ Syriens in Wien verhandelt haben. Ohne Assad in diese Konferenz einzubinden! Sehr seltsam. Wenn man sich das bei uns vorstellen würde…

Man könnte auch gleich von einem Recourcenkrieg sprechen. Diese Doppelbödigkeit hinter dem verlogenen Wertegefasel von ‚Demokratie‘ und ‚Frieden‘ …

Poetikdozentur

Tübinger Poetik-Dozentur dieses Jahr mit Clemens Setz und Kathrin  Passig als Co-Dozentin. Die Vorlesung in der Alten Aula hält Setz. Über Schreibanlässe spricht er. Ein Wortakrobat, ein Jongleur, der amüsante Spielereien mit Satzfragmenten und Überraschungseffekten durch Zusammenfügen von nicht Zusammenpassendem anzettelt (Screenshots von den Headlines alter, richtig alter Zeitungen). Lustig, verblüffend, ja durchaus – und irgendwann ermüdend.

Bin ich müde? Ich kichere ein bisschen mit und dann der Gedanke: ach leck mich, komm endlich zur Sache. Sind Worte denn nur Zeichen, Spielzeug?, nein, sind sie nicht, um das gleich zu beantworten, habe ich auch noch nie so gesehen. Es gab da mal eine Auseinandersetzung vor vielen Jahren mit einer WG-Mitbewohnerin, die behauptete, sie könnte ihre ungeliebte Schwiegermutter, wenn die es unbedingt wollte, auch MUTTER nennen: Meinetwegen, das ist doch nur eine Kombi aus sechs Buchstaben, meinte sie herablassend. Muss ja nichts bedeuten.

Doch. Muss es! Dekonstruktionen dieser Art sind unzulässig. Unsinnig. Na ja, ich weiß nicht, wie der Setz das jetzt einschätzen würde. Der ist inzwischen beim computergesteuerten Übersetzungsprogramm angekommen, vom Chinesischen ins Deutsche, wie seine Beispiele zeigen, und die Poesie der dabei entstehenden Crypto-Speach berühre ihn tief.

Ganz in der Tiefe berührt mich die Empfindung einer deprimierenden Belanglosigkeit. Laberrhabarber.

Ich mag den Setz trotzdem. Vielleicht, weil ich ihn mögen will. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015) werde ich mir morgen mal ansehen.

Altes

Samstag. Zum ersten Mal seit meinem persönlichen Big-Bang – zum ersten Mal seit drei Jahren – acht Stunden lang geschlafen.

Das letzte erinnerungsbehaftete Möbelstück ist raus. Ob du wirklich ER-LEICHTERT bist, ob du eine Sache wirklich hinter dir gelassen hast, nicht mit dem Gut-dass-der-Arsch-endlich-weg-ist-Gefühl, denn das ist immer unehrlich, sondern mit dem Gefühl: Ja. Es ist jetzt gut so, weil es gar nicht anders kommen konnte – wenn du mit genau dieser Einstellung eine Sache loslässt, dann merkst du das. Dann durchströmt und reinigt dich das von innen, sozusagen. Und du kannst, zum Beispiel, wieder schlafen.

Der Typ von dem holländischen Antik-Laden, mit dem ich gestern telefoniert habe, ist total entgegenkommend. Meine Unentschiedenheit zwischen zwei Buffets, die auf seiner Internetseite beide gleich gut aussehen, löst er mit dem Angebot, mir mit der nächsten Lieferung nach Süddeutschland einfach alle beide vorbei zu bringen. Wenn sie mir beide nicht gefallen sollten, müsste ich nur den Transport bezahlen (75 Euro). Ich könnte natürlich auch zwei kaufen. Hahaha, alles klar! (Das fasziniert mich: du schlägst dich mit so einem Problem herum, hast irgendwie Angst, und dann löst es sich in Luft auf, weil einer dir hilft oder du selber einen guten Einfall hast oder ganz manchmal auch nur, weil der Zufall dir in die Hand spielt.)

Gestern mit Susanne in Sachen Möbelkauf rumgefahren, zu Lärz nach K.Furt und zu Binsch nach Ohmenhausen. Sehr sehenswerte Läden; auf jeweils unterschiedliche Weise arbeiten sie das alte Holz supersorgfältig auf und haben feine Stücke auf Lager. Susannes künstlerisches Auge …

Fress-Ranking in Tübingen

Mein Lokal – dein Lokal in Tübingen! Mit im Rennen: Das Meze von Vasiliki und Gabriel.

Zum gemeinsamen Fernsehen mit Pizza und reichlich Freixenet finden sich W., der seinen eigenen Sekt mitbringt, Susanne und natürlich Steve vor meiner Uraltglotze ein. Heftige Kontroverse: Ich lasse nichts aufs Meze kommen, während W. skeptisch ist. Zur Party am kommenden Samstag sind wir alle und ganz besonders PM eingeladen (Gabriel: Wann sehe ich meinen Freund wieder?).

Diskussion über meine drei Kommunisten: Steve und ich haben Marx, Engels und Lenin letzte Woche jeweils eine original DDR-Pestalozzi-Medaille (von PMs Dad) verliehen. Zu Susannes Freude haben wir die Aktion fotografisch dokumentiert. Am blauen Samtband hängen sie ihnen nun vom Hals, was die drei Herren noch schmucker ausschauen lässt als bisher. W. freut sich, dass sie auf einer seiner ehemaligen Boxen stehen, er möchte, dass sie dort bleiben. Marx hat die Bronzemedaille erhalten, Lenin die silberne und Engels die goldene. Das ist kein Qualitätsurteil, wir haben uns am Material der Büsten orientiert. Steve hat mit Medizinerfingern an den verbrauchten Nadeln herumgedoktert, bis sie hielten, woraus man schließen darf, dass sie tatsächlich viel getragen worden sind. Steve nennt die Medaillen Broschen.

W., Susanne und Steve helfen mir bei der Suche nach einem neuen Buffet. Das alte musste ich abgeben, es wurde heute vom Protagonisten meines alten Lebens abgeholt und hat eine traurige Leerstelle im Raum hinterlassen. Da muss sofort ein neues her!, meinen sie einstimmig, und wir fangen gleich an, bei Ebay zu recherchieren. Von den fünf Buffets, die ich vorab schon ausgesucht habe, werden drei ad hoc verworfen. Vielleicht lasse ich einfach eins anliefern, von diesem holländischen Antiquariat, das die beste Auswahl hat.

Wenn an Weihnachten die Bude voll wird – und sie wird voll -, und hier ganz unrankingmäßig, aber groß gekocht und gegessen und beschert wird, dann sollten wirklich keine Kartons und kein Geschirr mehr auf dem Boden herumstehen …