Mag ich

Dienstag. Jugendliche, die ihre Zeit investieren, um Texte zu schreiben, sind besonders. Sie bleiben eine Stunde länger, als sie – und ich – eigentlich müssten. Um 17 Uhr sind sie nämlich noch lange nicht fertig. Und bis dann alles aufgeräumt ist, kann es auch mal 19 Uhr werden. Das macht mir nichts aus. Ich mag meine Schreibwerkstatt. Ich freue mich, wenn sie über ein “grimmiges G”, über “Löcher in der Wand”, über “Schemen der Nacht” und immer wieder über Tod und Selbstmord schreiben. Ihre Geschichten sind skurril bis abgefahren. Nie banal. Wir essen Kekse, trinken Heiße-Liebe-Tee, schreiben weiter, lesen uns die Ergebnisse gegenseitig vor. Über die Optimierung eines Satzes freuen sie sich wie die Schneekönige, wie andere über eine tolle Note. Noten gibt es nicht. Aber vielleicht wieder eine Lesung in Stuttgart, wenn das Coronavirus die Kultureinrichtungen endlich aus seinen Klauen entlässt.

Weg damit

Montag. Ein Paar abgelatschte Treter, dahinter eine unversehrte Shopping Bag von Breuninger – Größe 39, hat jemand mit dickem Marker draufgeschrieben.
Überall Haufen von Zeugs: Vor den Hauseingängen, auf den Bänken der Bushaltestellen, auf der Steinlach-Brücke in Tüten sortiert und ans Geländer gehängt: Leute, nehmt! Wir brauchen das nicht mehr.
Ein gutes Gewissen ist das beste Ruhekissen. Und so funktionieren wir unsere Entrümpelungsaktionen, unseren Wohlstandsmüll, unser Doppelt- und Dreifach-Haben in Mildtätigkeit um.
Ich erinnere mich gut an zwei, drei Fehlkäufe, die ich vor vielen Jahren heimlich in den Hauseingang einer Flüchtlingsfamilie gestellt habe, unter anderem eine teure Hose aus einer teuren Boutique, ich war Referendarin und hatte plötzlich Einkommen. Second-Hand-Läden gab es im verschnarchten Tübingen noch nicht, und Kleiderkreisel war Zukunftsmusik. Ich erinnere mich an meine Erleichterung, dass die Sachen nun doch noch einen Sinn haben würden.
Klar, wenn ich bedürftig wäre – und als Studentin war ich es und hatte mir meine gesamte Zimmereinrichtung vom Sperrmüll zusammengesucht –, würde ich die ausrangierten, vor den Eingängen deponierten Sachen auch mitnehmen, nichts gegen die sinnvolle Idee der Wiederverwertung. Ich würde mich über das gesparte Geld freuen oder über Dinge, die ich mir selbst nie leisten könnte. Dankbarkeit, gar freundschaftliche Gefühle für die Geber würde ich nicht entwickeln. Machen wir uns nichts vor: Mit dem Weg-Schenken tun wir uns selbst den größten Gefallen.

Weiter geht’s

Samstag,B.N. Nach B.N. zu fahren, in einem coronabedingt angenehm leeren Zug, von PM abgeholt zu werden und in ein warmes Haus mit liebevoll zubereitetem Abendbrot zu kommen, das ist schön. Eine Auszeit, um die Dauerstresssituation im “Amt”, die obernervigen Fortbildungen in Sachen Digitales Lernen, das Alleinsein kurz mal zu vergessen. Heute gehts weiter nach Köln zu meiner Lieblingsfamilie, die nun halbiert ist, und diesmal ist es die väterliche Hälfte. In meinem Gepäck sind Laternen und Stöcke, das ist mein Abendprogramm mit Mini-L.chen und Mini-T.chen. Aus der Traurigkeit das Bestmögliche machen und die eigene Traurigkeit wegdenken … Dranbleiben auch wenn es schwierig ist, das vor allem ….

Corona Diary – Spreu & Weizen

Donnerstag. Nicht, dass sich in der Pandemie die Spreu vom Weizen groß unterscheiden würde. Vielmehr sind alle zusammen ein verstörter, dünnhäutiger Haufen. Der Coronagegner möchte den Maskenträger, der einen weiten Bogen um ihn schlägt, am liebsten erwürgen, während der Maskenträger sich den Coronagegner schon ans Beatmungsgerät fantasiert – da wo er hingehört, siech und sterbend.
Corona trennt Familien, best friends, Arbeitsteams. Maria sitzt, die Maske demonstrativ unter der Nase tragend, im Schnittpunkt mehrerer böser Kolleg*innen-Blicke, die sie mit beseeltem Märtyrerlächeln erträgt. Ich ertrage das Maß ihrer Selbstauslieferung dagegen nicht. Mach mal Maske hoch!, sage ich zu ihr. Wie auf Befehl zieht sie sich das Stück Stoff über die Nase. Um mir Stunden später mitzuteilen, dass dieser Affront, den zahlreiche Leute mit Schadenfreude verfolgt hätten, das Ende sei!
Aha. Wer einschnappt, schnappt auch wieder aus, pflegt Jerome solche Situationen zu kommentieren, aber so einfach ist es nicht. Maria bricht in Tränen aus. Den angepassten Schleimern gehörten Bomben untern Hintern geschoben, schluchzt sie, und irgendwas von politischen Verwerfungen und einer gewissen Partei, die in diesem Fall auf ihre Stimme zählen könne.
Die Unverhältnismäßigkeit steht greifbar zwischen uns. Aus Maria ist eine Wutbürgerin geworden, schäumend irrational. Argumente zählen für sie schon lange nicht mehr. Dann krieg ich’s eben!, schleudert sie jedem, der ihr Verhalten kritisiert, entgegen und vergisst, dass die anderen “es” dann eben auch kriegen. Womit wir bei der Grundsatzdebatte über die Sinnhaftigkeit von Masken wären, doch da ist bei mir finito. Dass etwas ohne Stofffilter leichter aus meinen Atemwegen gelangt als mit, kann ernsthaft nicht bezweifelt werden (auch ohne die zahlreichen Doppelblindstudien aus Wuhan und San Francisco, auf denen in den kommenden Jahren noch zahlreichere Doktorarbeiten aufbauen werden).
Es sei denn, wie PM sagt: Da liegen andere Probleme vor!
Ich mag dich, sage ich noch im Spaßmodus, doch der ist längst vorbei. Ich dich nicht! Maria steht auf und rauscht ab. Das Ende unserer Freundschaft?, denke ich melodramatisch, und wie grotesk das alles ist. Corona im fortgeschrittenen Stadium holt das Schlechteste aus den Menschen raus. Sehr beschissen.

Jung

Dienstag. Wenn einer so lacht und sagt, ich bin wohl eher introvertiert, und auf seine Füße starrt und sich in den Schultern dreht und wieder so nett lacht, dann weiß ich, warum ich meine Arbeit mit Jugendlichen liebe. Sie sind einfach toll. Nicht unbedingt die, die kreischen und schreien und sich von morgens bis abends bemerkbar machen – okay, die haben auch was und fangen dich ein mit ihrem Charme – , sondern die stillen, die kein Geheimnis aus sich machen, aber trotzdem eins sind. Sie sind Elfen und Prinzessinnen und Pokerfaces und Könige, aber sie wissen es nicht. Sie spielen nicht. Sie sagen krass und save und sind, wie sie sind. Sie versuchen nichts anderes vorzugaukeln. Sie sind offen wie ein Buch. Du liest darin und denkst: hoffentlich verletzt dich keiner. Natürlich werden sie verletzt, schon in der nächsten Stunde, wahrscheinlich, spätestens in der übernächsten. Das auszuhalten, das wegzustecken, nennt man erwachsen werden.

Viel

Sonntag. Manchmal tut es gut, über Essen oder Klamotten oder so zu schreiben, wenn die Gedanken seit Wochen und Monaten um nichts als Corona kreisen. Das ganz normale Leben wird zum Luxus. Samstag Abend also. PM hat eine Martinsgans mitgebracht, dazu gibt es Rotkraut und Thüringer Klöße. Wie gut, dass er so gut kochen kann – noch nie im Leben habe ich eine Gans gemacht. T. und E. sind da, ich schaue mir meinen Sohn an und mir wird warmumsherz. Da ist ein großes Ein-Verständnis. Noch viel schöner wäre es, wenn meine Tochter, meine liebe L., auch dabei wäre. Man kann nicht alles haben. Wir sitzen um den Tisch, wir essen zusammen, wir erzählen uns. Ich will nichts weiter. Das ist schon sehr viel.

Erwartung

Samstag. In der Stille der Nacht bis halb vier korrigiert. Von Sonne und penatenblauem Himmel sanft geweckt. Mein Schlafanzugoberteil als Kombipartner zur superedlen Raffaello-Rossi-Hose entdeckt, die ich direkt schon bei Kleiderkreisel einstellen wollte – aus uralt mach neu. Schnell einkaufen, aufräumen, gleich kommt PM.

Big Blue Button

Donnerstag. … zwei Stunden rumeiern und nicht ins System reinkommen, während die Veranstaltung ohne dich läuft und läuft, das ist frustrierend und demütigend und du sitzt zerknüllt in der Ecke, als wenn einer Finnisch auf dich einredet, und die good Vibes versickern irgendwo in der Tastatur und die Zeit sowieso. Dein Leben ist an diesem Nachmittag übelst in Frage gestellt …

Unterwerfung …

von Michel Houellebecq (2015) ist ein Buch für Frauen. Ein Warnbuch, sozusagen: Nach der Regierungsübernahme durch islamische Parteien in den meisten europäischen Ländern werden die Frauen aus dem öffentlichen Leben getilgt. Sichtbar in Erscheinung treten nur noch die Männer, auf die ein gepampertes Dasein nach sehr klar definierten Regeln wartet. Die Frauen verschwinden in die Bedeutungslosigkeit von Küche und Bett. Sie werden nicht einmal von ihren Männern ausgewählt. Das Wählen des/der Ehepartner*innen gilt in der islamischen Gesellschaft als Relikt eines längst überwundenen Individualismus’. Statt dessen übernehmen diese Arbeit erfahrene Ehestifterinnen, und alle sind’s zufrieden. Auch der Protagonist fügt sich am Ende. Die letzte Hürde, der Übertritt zum Islam, fällt ihm, dem Atheisten, ein wenig schwer. Doch das gute Einkommen als Uniprofessor und die Aussicht, dass dieses Einkommen für vier Ehefrauen reicht, erleichtern ihm den Schritt. Der Vorgang des Konvertierens ist im Konjunktiv – Potentialis – geschrieben. Und dann ist das Buch zu Ende. Es bleibt die Hoffnung, dass er es nicht tut. Doch die Hoffnung ist angesichts der Lockmittel unbegründet.
Der Roman ist im absolut trockenen, schwer vermittelbaren Universitätsmilieu angesiedelt. Den roten Faden bildet die Dissertation über einen französischen Autor namens Huysmans. Keine leichte Lektüre also, keine Massenlektüre. Die Handlung ist von der Straße weggeholt. Sonst wäre sie anders ausgefallen. Sonst wäre das Buch niemals gedruckt worden. Die Dialoge sind geschliffen, die Morde während der kurzen Übergangsphase geschehen wie nebenbei, selbst hier ist der Ton fein und gewählt: Degen statt Machete. Nur in dieser intellektuellen Abgehobenheit ist der Plot nicht rassistisch: In der Kritik steht weniger der Islam als der französische Linksintellektualismus – dessen Vertreter einer nach dem anderen umfallen. Als hätten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bzw. Schwesterlichkeit / Feminismus nie im französischen Kollektivbewusstsein existiert. Hauptsache der Mokka wird heiß serviert, von einer servilen Ehefrau. Auf die Weise entsteht eine dunkle, auf leisen Sohlen daherkommende, nicht gänzlich unrealistische Geschlechter-Polit-Dystopie. Merkwürdigerweise von einem Mann geschrieben, der doch zu den Gewinnern gehören würde …