Währungen

Freitag, B.N. China will die erste große Volkswirtschaft mit einer eigenen digitalen Währung sein. 200.000 ausgelosten Personen wurden 200 digitale Yuan, was umgerechnet 25 € sind, auf ihre Smartphones geschickt – und wer sagt zu einem Geldgeschenk schon Nein? Bereits bis zu den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking soll das virtuelle Geld auf dem Markt einsetzbar sein.
Da der digitale Yuan staatlich reguliert ist, lässt sich jede einzelne Transaktion in Echtzeit verfolgen. Dem Kontrollblick auch in die kleinsten Fächer der Portemonnaies der Bürger*innen steht damit nichts mehr im Weg. Fragt sich, wann der IWF nachzieht. Die digitale Währung ist ein Schreckgespenst und keine Zukunftsvision, die Lust auf Teilhabe macht.
Ich setze für die gar nicht mehr so ferne, postcoranale Zukunft auf Business to Business. Von jungen Leuten längst praktiziert -s. Foodsharing -, bewährt sich das Geschäftsmodell schon seit den späten Neunzigern in Form von Nachbarschaftshilfe oder Zeittauschsystemen etwa in der Altenpflege.
B2B-Währungen, egal ob in analogen oder virtuellen Tauschringen verwaltet, haben gleichzeitig etwas Archaisches und Visionäres: sie lockern die Abhängigkeit von Banken, sie verbinden wirtschaftliche mit gesellschaftlichen Interessen, ohne letztere komplett zu dominieren. Sie lassen den überhitzen Steigerungswahn – inklusive der ungehemmten Steigerung von Kontrolle – links liegen, auf den auch ohne Corona viele Menschen schon lange lange lange keinen Bock mehr hatten.

Inge Auerbacher

Donnerstag, B.N. Gutes Gespräch / Videokonferenz mit Inge Auerbacher in New York. Es geht wieder los, oh ich freue mich. Was für eine Protagonistin! Holocaust-Überlebende, Lebensintensivistin, Sich-Neudefiniererin ohne Vorlage …

Leider geht mein Handproblem auch wieder los. Alles nur einhändig, alles mühsam und schmerzhaft.

Trotzdem – ich sehe wieder Land!!!

Keine entscheidende Rolle

Mittwoch, B.N. Die Schulen und die dort Betreuten und auch die dort Betreuenden, also die Lehrer, haben keine entscheidende Rolle in der Pandemie gespielt.”
Sagt Prof. Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission über den Kampf der Impfstoffe.
Warum dann der irre Aufwand mit Fernunterricht und HomeSchooling? Mit einer didaktischen Unform, die niemandem guttut, die das Lernen zu einer einsamen Sache verkommen lässt, die Teamwork untergräbt zugunsten eines längst überwunden geglaubten Einzelkämpfertums? Die das Schulleben dem Familienleben aufoktroyiert und zu Überlastung und psychischer Überforderung nicht nur bei den Betreuten, sondern auch den Betreuenden führt?

Welt der schönen Bilder

Dienstag, B.N. Ein Kreuzfahrtschiff auf dem Orinoco. Nächste Station: Ciudad Guayana, doch der Hafenmeister verweigert dem Schiff die Landung und gleich auch Weiterreise. Der Grund ist unklar, vielleicht hat er einfach keinen Bock auf teutonischen Touristenandrang. Das Schiff wirft Anker mitten auf dem Fluss. Das sieht sehr seltsam aus, finden wohl auch die Einwohner. Neugierig nähern sie sich in ihren Booten, erst nur einzelne, dann immer mehr. In Paddel- und Motorbooten umkreisen sie den weißen Riesen. Eng beieinander hockende Männer, Frauen, Alte und Babies winken und lachen. Sogar Musik haben sie mitgebracht – eine Party auf dem Wasser. Die alte Frau strahlt, als habe sie so etwas Wundervolles noch nie gesehen: Ein gigantisches weißes Schiff voller weißer Touristen. Zum Heulen schön ist das, wie sie sich freut. Ohne Misstrauen. Sie will nur eins, diese Fremden begrüßen, dafür ist sie rausgefahren. Sie lacht wie ein Kind, und ich habe so kitschige Gedanken, wann ich das letzte Mal so gelacht habe und dass ich immer auf mindestens zwei Ebenen gleichzeitig denke und fühle. Ganz schön nervig, dieser permanente kognitive Transfer, dieser Zwang zur Differenziertheit – oder betreibe ich jetzt schon wieder mind fucking? Davon hat die Alte keine Ahnung, sie sieht freundlich aus und sehr würdig. Die Touristen sind verärgert wegen der nicht stattfindenden Landung, andere haben Mitleid mit den armen Eingeborenen und werfen Sachen über die Reling. Niemand trifft, die Sachen fallen ins Wasser. Blitzschnell setzen die Boote sich in Bewegung, um sie herauszufischen. Der Kapitän ist sauer, er will dieses Werfen nicht, über Lautsprecher mahnt er an, die Würde der Menschen zu achten. Die Boote treten den Rückzug an, die Touristen haben das Zwischenspiel schnell vergessen, auf dem Deck gibt es ein Barbecue, und das nächste Ziel ist Trinidad.

Nähe

Sonntag, B. N. Warum seit einigen Jahren massenhaft Züge ausfallen, wenn die Temperaturen gegen Null gehen, weiß niemand. Wegen Wetter, heißt es am Stuttgarter Hauptbahnhof, Fällt aus, fällt aus, verkünden die Anzeigetafeln an den Bahnsteigen. Was ist denn mit dem Wetter? Strahlende Sonne und knackige Kälte, na ja, minus 4 vier Grad, und die deutsche Ingenieurskunst bricht zusammen. Der Zug, der es dann doch schafft loszufahren, ist gerammelt voll. Damit kann man nicht mehr umgehen, Menschen und Menschengerüche aus nächster Nähe, ich krame die medizinische Maske raus, die sowieso Vorschrift ist, und kriege meinen Unwillen kaum in den Griff. Ich sitze im Speisewagen an einem Einzeltisch, zwei Frauen werfen sich in die Bank gegenüber, befördern belegte Brote aus ihren Handtaschen, reißen sich die Masken vom Gesicht und mampfen keine 50 cm von mir weg los. Der Bordkellner guckt indigniert und zieht Leine. Ich wechsle ins Großraumabteil, wo es auch nicht besser ist. Wie hat man das früher, vor Corona, ausgehalten? Menschen dünsten Krankheit aus, sind fremde und zu meidende Wesen, so hat Corona bzw. der never ending Lockdown unsere / meine Wahrnehmung verändert.
Der ist nämlich von der Regierung gerade um drei Wochen verlängert worden. Mitte März, heißt es jetzt. Bevor der Inzidenzwert nicht auf 35 runter ist, wird über Lockerungen nicht nachgedacht. Hat man uns bisher die magische 50 vorgehalten wie der Maus ein Stück Speck, wovon wir auch gar nicht mehr so weit weg sind, sorgt die neue Virusmutation für eine neue Panikwelle und schreit nach neuen Maßnahmen.
Nicht nur Kinder und Jugendliche brechen zusammen. Der familiäre und gesellschaftliche Crash treibt die Sensibelsten in die Psychiatrien des Umlandes, Tübingen ist nämlich schon voll, und auch aus meinen Lerngruppen mailen die Ersten von abgelegenen psychiatrischen Einrichtungen aus, um mir zu versichern, dass sie beim Homeschooling dranbleiben. Als wäre das das Allerwichtigste, OMG!, solche Geschichten treiben einem die Tränen in die Augen.
Meine liebe L. ist in Köln mit den Kindern in Quarantäne – eine der Kita-Betreuerinnen wurde positiv getestet. Alle 80 Kinder der Einrichtung werden vom Gesundheitsamt zuhause durchgecheckt, solange kommt keins aus der Bude raus und die Eltern auch nicht. Dass an der erstickenden Nähe Ehen, Familien, bewähre Strukturen zerbrechen, kann keinen verwundern. An einem der heute leider zahlreichen Umstiegbahnhöfe dreht sich plötzlich ein Typ vor mir um und prügelt brüllend mit einer leeren Plastikflasche auf einen asiatisch aussehenden Vater mit Kleinkind ein. Der erstarrt vor Schreck, auch das Kind vergisst zu weinen, bis ihm eine Frau zur Hilfe eilt. Die Leute ticken langsam aus, ein falsch verstandener Blick bringt das Fass zum Überlaufen.
Die Friseure dürfen nach neuesten Informationen ab dem 1. März wieder öffnen, die übrigen Geschäfte wie auch Restaurants etc. bleiben geschlossen. Die Geschäfte haben auf online-Versand und Straßenverkauf direkt aus dem Schaufenster umgestellt. Auf die Weise habe ich in Tübingen einen weißen Pullover erstanden. Als ich in der offenen Tür mit Karte zahlen will, bittet die Ladeninhaberin mich um Barzahlung. Sie sieht mich so verzweifelt an, dass ich ihr eine Packung BioKekse dazulege, die ich gerade für ein Trost-Paket für L. gekauft hatte. Den Pullover gibt es zum Einkaufspreis, verdient hat sie damit nichts. Welche Geschäfte werden überleben? Wie sehen die Städte “nach Corona” aus? Vorstellungen, die man sich nicht geben mag.
PM wartet am Bahnsteig. Er guckt in die falsche Richtung, vollführt eine elegante Drehung, und ich laufe ihm auf seinem Lächeln direkt entgegen. Klick, alles Bedrückende wie gelöscht. Er verstaut meinen Koffer, auf der Rückbank liegen feine Sachen vom türkischen Stand, gleich kommen J. und A., es gibt viel zu erzählen, wir haben gemeinsame Pläne, das Haus ist warm und duftet nach Kaffee und Kerzen.


Chick Corea ist nicht mehr

Freitag. Auf seiner Facebook-Seite hinterließ Corea eine Botschaft an seine Fans: “Ich möchte mich bei allen auf meiner Reise bedanken, die geholfen haben, die Feuer der Musik hell erleuchtet zu halten. Es ist meine Hoffnung, dass die mit Ahnung vom Spielen, Schreiben, Performen oder etwas anderem, dies tun. Wenn nicht für Euch selbst, dann für den Rest von uns. Die Welt braucht nicht nur mehr Künstler, sondern es macht auch einfach viel Spaß.”

Leider hatte er enge Verbindungen zu Scientology, verehrte L. Ron Hubbard, dem er mit jedem Album dankte – und da ist sie wieder, die unbeantwortete Frage nach der Trennung von Werk und Künstler …

Heißer Schrecken

Dienstag. Vor drei Wochen hat meine Waschmaschine den Geist aufgegeben. Frühester Reparaturtermin: 09. Februar, also heute. Drei Wochen sind entsetzlich lang, wie soll ich so lange ohne Waschen auskommen?
Von der Sache her nicht schlimm, ich kann bei meiner Nachbarin Lilli waschen. Vom Zeitgefühl her empfinde ich diese drei Wochen im Rückblick als Katastrophe. Plötzlich sind sie um, die vielen, vielen Lebenstage, und mir fällt nichts ein, was ich in dieser Zeit gemacht habe außer am Laptop gesessen. Der Lockdown macht einen anderen Menschen aus mir, einen, der ich nicht sein will. Am schlimmsten finde ich diese permanente Angst vor Fehlern. Ein Mal danebengegriffen, und du bist draußen, blickst es nicht mehr, kommst nicht mit, kommst nicht mehr rein. Zehn Mal am Tag überfällt mich ein heißer Schrecken, um sich dann GSD meistens in Luft aufzulösen. Trotzdem – das sind die Momente, in denen ich schlagartig um drei Jahre altere.
Ich befinde meinen Status als menschliche Maschine für menschenunwürdig. Und doch gibt es erste Anträge im “Amt”, in Zukunft nur noch virtuell zu arbeiten: „Weil man sich den Weg spart.“
Heilige Scheiße, was ist so schlimm an einem Weg?

Pijökel und Saharastaub

Sonntag. Der bedrückend gelborangebraune Himmel gestern – das war Staub aus der Sahara! Gegen Mittag tauchte er die Welt, zumindest den Süden Deutschlands, in ein trübes Licht, der perfekte Rahmen für den gesamtgesellschaftlichen coronadepressiven Seelenzustand. Die Atmosphäre war unwirklich wie kurz vorm Weltuntergang.

Mit Dorle gestern abend bei PMs formidabler Fischpfanne ein neues Getränk getestet und für gut befunden: Pijökel 55! Das Rezept stammt vom Apotheker-Opa des Firmengründers: Ein Herbal-Elixier (weder Schnaps noch Likör!) aus Berlin – sehr zu empfehlen gerade in diesen unsäglichen Zeiten. Heizt gut ein und hinterlässt keinen Kopfschmerz.

Dorle zieht nächsten Monat nach Berlin um, schnief. Sie fehlt mir jetzt schon.

Corona Diary – Vorübung

Freitag. An eine existenzielle Katastrophe wie die Pandemie können wir wohlstands- und sicherheitsverwöhnten Europäer uns nicht so ohne Weiteres gewöhnen. Wir haben die Wissenschaft, die Technik und eine hochentwickelte Medizin auf unserer Seite – was soll da schon passieren? Unsere größte Sorge gilt der Ausbildung der Kinder, dem Berufsalltag, den Hobbies, den Urlaubsreisen.
Und plötzlich kommt ein Virus aus dem Nichts und stellt alles infrage. Unser gesellschaftliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben liegt am Boden, Wissenschaftler*innen und Mediziner*innen kommen an ihre Grenzen, jeder ist mit sich allein. Corona-Alltag: Man bewegt sich nicht mehr, man sieht niemanden mehr, man spricht mit seinem Bildschirm. Wie soll es weitergehen? An den Sieg über das Virus glaubt niemand mehr. Dass Corona in Zukunft zu unserem Leben gehört, ist die bittere Pille, die wir uns noch zu schlucken weigern. Wir ahnen aber schon, dass sich unser Verhalten im Alltag grundlegend verändern wird, weil es in einer globalisierten Welt nicht bei dieser einen Pandemie bleiben kann. Und dass die Pandemie nur eine Vorübung für weitere Katastrophen ist: für den drohenden Klimakollaps zum Beispiel, der uns durch Corona kurz mal aus dem Blick geraten ist.
Der Lockdown ist bei Weitem nicht das Schlimmste. Es ist die Ungewissheit über unsere Zukunft, die jedem einzelnen an die Nieren geht. Wir haben die Zuversicht verloren. Die Pandemie zieht uns den Zahn, dass alles gut werden wird.