Keine Helden

Samstag. Dorle: Weißt du, dass ich mal ein Verhältnis mit einem Antonio hatte? Ja, das habe ich dir noch nie erzählt. Der hatte eine Freundin, aber wir haben ab und zu miteinander geschlafen, das war immer so undefiniert. Und dann hat der mich zu sich nach Hamburg eingeladen, und ich bin dahin gefahren und habe in seinem Zimmer übernachtet und seine Freundin auch, und dann haben die beiden miteinander gevögelt, und ich war in dem Zimmer und habe alles mitgekriegt. Das war doch Scheiße, oder?

Ja, das war Scheiße, das war so was von richtig Scheiße!, von so einer Nummer hat mir auch mal einer erzählt – na wer wohl, du hast drei Versuche, richtig, hundert Punkte! – , der hat das auch gebracht, mit einer Freundin gevögelt, während deren Freund im selben Zimmer gepennt hat. Das hat dem ’n Kick gegeben, weil der sonst nicht viel gespürt hat, der blutleere Vampir. So waren die Typen in den wilden Achtzigern oder Siebzigern, und heute geben sie immer noch mit ihren alten Geschichten an und meinen, sie sind Helden, diese Nullnummern.

Eine Meinung

Samstag. „Guck mal, da ist Andreas‘ Mama!“, ruft das Kind und presst die Nase an das Zugfenster. Wir stehen noch im Stuttgarter Bahnhof und warten auf die Abfahrt nach Tübingen.
„Wo isch dem Andreas sei‘ Mama?“ Die Mutter des Kindes beugt sich zum Fenster vor.
„Da, Andreas‘ Mama!“, wiederholt das Kind.
Die Mutter guckt intensiv: „Tatsächlich, dem Andreas sei‘ Mama“, sagt sie.
Als unter Schwaben lebende, sogenannte Norddeutsche bin ich ein wenig geschädigt, was mein Verhältnis zum Dialekt angeht. Manchmal gebe ich das auch zu. Auch, wenn ich mich damit bei dem einen oder der anderen Mitbürger*in unbeliebt mache.
Ich bin der Meinung, dass Eltern ihrem Kind die Grammatik nicht vorenthalten sollten. Dies zu bekennen, kostet mich keinen Mut. Niemand wird mich dafür verfolgen, verprügeln oder töten. Die demokratische Verfassung unseres Rechtsstaates schützt mich davor. Und wenn ich feststelle, dass meine Meinung falsch war, darf ich sie ungestraft ändern, und auch dann passiert mir nichts. Ich meine, es ist nicht GEFÄHRLICH, eine Meinung zu haben, selbst dann nicht, wenn es die falsche ist. Ich finde, es ist besser, eine falsche Meinung zu haben als gar keine.
Meine Vermutung: Mit steigender Relevanz der virtuellen Kommunikation werden die Leute zunehmend meinungslos. Zugeknöpft. Unauthentisch. Die eigene Meinung wird zur Privatsache erklärt. Und das Private ist schon lange nicht mehr politisch im Sinne von: die Allgemeinheit betreffend.
Die Angst vor der Preisgabe des Privaten hat eine dramatische Wende im Umgang mit der Öffentlichkeit ausgelöst. Mit der Offenheit. Man ist nicht mehr offen. Ist ja auch wenig angezeigt. Jedes Partyfoto lässt sich von potentiellen Arbeitgebern auswerten, jede Info über Hobbies, Alter und Geschlecht kann unlautere Sexopas auf den Plan rufen, jede Unvorsichtigkeit im weltweiten Netz macht angreifbar. Jeder ist für sich ein geschlossenes System, von dem allenfalls Belanglosigkeiten wie Katzen- und Fressfotos oder die eine oder andere anonyme Bosheit ihren Weg nach draußen finden.
Die meisten Botschaften werden zweckgebunden online gestellt und nicht, um auf die Weise eine persönliche Erfahrung oder Meinung weiträumig zur Diskussion zu stellen und vielschichtige Antworten darauf zu empfangen. Dem Adressaten oder Adressantenkreis soll ein Produkt angepriesen, ein Denkzettel verpasst, eine Meinung aufoktroyiert werden. Am besten eignen sich dafür Sensationen, denn die Sensationslüsternheit einer am  schnellen Konsum orientierten Gesellschaft ist ein Fass ohne Boden.
Eine unangenehme Begleiterscheinung ist der Abnutzungseffekt. Sextapes von diversen ‚Stars‘ lösen kaum noch Reaktionen aus, weil man mit jeder Wiederholung mehr die Zweckgebundenheit hinter den Bildern so schrecklich deutlich erkennt. Angeblich wird die nackte Paris Hilton in dem Video ihres Ex-Lovers von eben diesem gevögelt, was ja eigentlich so niemand sehen will, aber Scham und Erschrecken bleiben trotzdem aus. Man kennt das schon, bald werden solche Bilder zum normalen Info-Set von Leuten mit Aufmerksamkeitsdefizit gehören. Das Private ist banal geworden.
Und wie lässt sich dann noch über Privates sprechen? Ich meine wirklich: Sprechen. Mit den Maßstäben der Online-Kommunikation gehen die Maßstäbe der direkten Kommunikation verloren. Per SMS die Beziehung aufzukündigen ist eben viel leichter, als die unangenehme Botschaft von Angesicht zu Angesicht loszuwerden. Regt sich darüber noch irgendjemand auf? In welchem Jahrhundert leben wir denn? Ist das nicht inzwischen normal?
Nee, finde ich nicht. Ganz ehrlich. Das geht gar nicht. Das ist meine Meinung. Das ist nämlich feige. Genauso wie es nicht geht, intime Bilder als Werbematerial in eigener Sache oder als Verrätermaterial gegen andere zu missbrauchen – und so ganz nebenbei noch den Sex zu entwerten. Na ja, und ich finde es eben auch falsch, seinem Kind keine Grammatik beizubringen. Okay, ich bin jetzt ein wenig vom Thema abgedriftet. Es geht mir einfach darum, eine Meinung zu haben. Und die auch zu vertreten. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht sagen

Drei Witze von Horst

Montag. Ein Mann geht ins Café und sagt: Ich hätte gerne einen Kaffee, aber ohne Sahne.
Der Kellner nimmt die Bestellung auf, kommt jedoch gleich wieder zurück und sagt:
Es tut mir sehr leid, aber heute haben wir keine Sahne. Darf es auch Kaffee ohne Milch sein?

Erzählt Horst im Boulanger, und wir liegen unterm Tisch vor Lachen.

Ich kenne nur drei gute Witze, sagt Horst.

Erzähl sie alle!, betteln wir.

Gut! Horst: Ein Mann geht ins Café – also ein anderer jetzt – , und bestellt ein Erdbeertörtchen mit Sahne. Als der Kellner das Erdbeertörtchen bringt, sagt der Mann: Entschuldigen Sie, aber ich habe es mir anders überlegt, ich hätte doch lieber einen Cognac.
Der Kellner bringt den Cognac, der Mann trinkt ihn aus und will gehen.
Halt, ruft der Kellner, Sie müssen doch noch bezahlen.
Was denn?, fragt der Mann.
Na, den Cognac.
Aber dafür hab ich Ihnen doch das Erdbeertörtchen gegeben!
Kellner: Das haben Sie doch auch nicht bezahlt.
Das hab ich ja auch nicht gegessen!, erwidert der Mann

Wir lachen wieder, aber nicht mehr so doll wie beim ersten Witz.

Erzähl noch den dritten, sagt Friedrich.

Horst überlegt, dann sagt er: Den hab ich vergessen.

Das Leben ist so schön, jetzt bring ich mich um, seufzt Rolf. (Das milde Lächeln von Caroline!)

Friedrich und ich berichten von unserm WG-Experiment. Und dass jetzt unsere Zukunfts-WG ihren symbolischen Anfang genommen hat. Dafür ist Friedrich extra für zwei Tage nach Tübingen gekommen und wohnt bei mir. Erfolgreich. Test bestanden. Wir gehen uns nicht auf die Nerven.

Im Gegenteil, meint Friedrich und reißt die Augen auf, wir mögen uns sogar!

Ich küsse ihn vor Begeisterung auf die Stirn.

Da hab ick mir aber jefreut, sagt Friedrich.

Querdurchsland

Donnerstag. „Hab ne schwarze Jogginghose, schwarzes langärmeliges Shirt, grauen Rucksack und einen schwarzen Koffer … (Smiley) Bist du schon da??? LG Dennis.“ Soweit Dennis‘ SMS.

Ich warte in Kiel auf Bahnsteig 6 auf ihn, und da kommt er schon grinsend um die Ecke, ein Anfang zwanzigjähriger, bildhübscher Typ, der mir mit dem Smartphone in der Hand lässig zuwinkt.

In Hamburg warte noch ein Pärchen, klärt Dennis mich auf. Dem Namen nach müsste es sich um Chinesen handeln. Das Mädchen trage einen pinken Blumenstrauß und eine giftgrüne Tasche. Und dann sei da noch eine, die sich nicht näher beschrieben habe.

Man erkennt sie sofort am Blick, sagt Dennis. Am suchenden Blick. Er hat das schon öfter gemacht, das mit dem Querdurchsland-Ticket. Sechzig Euro kostet es, und man kann bis zu vier Personen mitnehmen. Die finden sich über mitfahrzentrale.de.

Logo, da hab ich ihn ja auch gefunden. Für jeden also fünfzehn Euro. Dafür nur Regionalzüge. Was das heißt, begreife ich erst jetzt. Acht Mal umsteigen, und das mit meinem Monsterkoffer.

No problem, sagt Dennis, ich bin es gewohnt, die Koffer meiner Mitfahrer zu tragen.

Er schleppt mein Riesenteil treppauf, treppab. Einmal haben wir einen längeren Aufenthalt, ich gehe mit der Studentin, die unglaublich groß ist, im Bahnhof von Lüneburg oder Göttingen Trinkschokolade und Kuchen für Dennis einkaufen. Sie sind alle soooo nett. Sie könnten meine Kinder sein. Sie sagen aber, sie könnten meine Schüler sein. Sie sind sehr rücksichtsvoll, wir respektieren gegenseitig unseren Altersunterschied. Das Pärchen ist chinesisch-vietnamesisch. Beide sind sie smart, intellektuell und fleißig: Der junge Mann rechnet die ganze Zeit irgendwas aus, er studiert Wirtschaftsrecht und erfüllt, wie wir feststellen, alle Asi-Vorurteile. Die junge Frau guckt ihm über die Schulter, oder sie informiert uns über amerikanische TV-Serien. Die große Studentin, die auch Wirtschaft studiert, findet es nicht gut, dass wir über einen sehr fetten Schaffner ablästern.

Dennis zeigt uns seine Dehnübungen. Er legt sich ein Bein über die Schulter, überrascht uns mit Tanzeinlagen und singt uns seine Stücke vor, die er nächste Woche bei einer Challange vortragen wird. Er ist nämlich Musical-Student. Er hatte sogar schon ein Engagement in Schwäbisch Hall auf der großen Treppe. In rosa Tüll und High-heels. Dennis erzählt von seinem Comming out: Mein ganzes Schulleben bin ich gemobbt worden, sagt er. Er hat so eine Lebensklugheit. Als sei er der Gruppenälteste, dabei bin ich das doch. Einmal drücke ich auf eine Milchtüte, um sie zusammenzufalten, damit sie in den Papierkorb unterm Fenster passt. Die Restmilch schießt aus dem Strohhalm raus und mir über die Hose. Lacher. Hohoho hahaha!

Mist, sage ich und ärgere mich.

Guck mal dahinten, sagt Dennis ganz ruhig. Im Gang ist ein viel größerer Müllkasten. Da passt sie rein.

Ich stehe auf und trage meine Milchtüte in den großen Müllbehälter im Gang.

Ich bin froh, dass Dennis da ist. Ich bin froh, dass ich ihn aufgetrieben habe für diese Fahrt nach Hause, diese angstbesetzte Fahrt, die in meiner gruselig leeren Wohnung enden wird.

Heute schlafe ich bei meiner Mama, sagt Dennis fröhlich, sie ist die beste Mama der Welt. Und morgen geht es nach Italien. Mit meiner Freundin, der Steffi. Das wird supi. Mann, ich hab meinen Pullover vergessen! Bei der Steffi. Ganz bestimmt, da hängt er noch. Ausgerechnet meinen Lieblingspullover. Ich ruf sie schnell mal an. Hi, Süße, duhu, hast du meinen Pullover gefunden, den mit Treppe abwärts? Oooh, eeeecht, ist er daaa, oooh, supi, Mann. Bringst du mir den mihit? Okay, das’s lieb, Steffi, dann bis später, tschühüß. Hach, ich hab so wenig geschlafen die letzten Tage. Vorgestern hab ich dem Mike beim Umziehen geholfen, um neun Uhr abends kam endlich der Transporter – statt nachmittags um vier – , und als wir fertig waren, hahaha, da war es schon wieder hell. Und gestern in Damp mit der Steffi und ihrer Freundin … Die hatte was mit dem einen Fluglotsen, jaaa, wir haben da nämlich Fluglotsen kennen gelernt, deshalb sind wir auch ewig am Strand abgehangen und später alle zusammen in seinem Hotelzimmer, ich ganz rechts und die beiden links, und die ganze Zeit schmatz, schmatz, boa, irgendwann bin ich eingeschlafen. Ja, und morgen geht’s weiter. Nach Italien. Und danach ist meine Challange. Wenn das klappt, Mann, wenn das klappt!

Schlecht geträumt

Montag. „BITTE, BITTE, dann fangen wir eben wieder beim QUINTENZIRKEL an!“, schreit Jerome, irgendeinen namenlosen, sogar nicknamelosen Musiklehrer aus grauen Vorzeiten zitierend, weil ich ihm nicht zugehört habe (wie er seinerzeit seinem Musiklehrer nicht zuhörte, der dann auf diese Weise reagierte, siehe oben).

Nicht zugehört, als Jerome sich daran macht, mir irgendwas zu verklickern – Merkel habe was behauptet, Steinbrück was anderes beim großen Kanzlerduell gestern Abend im Fernsehen – , ich habe so schlecht geträumt heute Nacht. Von dem Phantom, dessen Namen ich nicht mehr denken, dessen Gesicht ich nicht mehr sehen, dessen Stimme ich nicht mehr hören will.

Sorry, mein Lieber. Ich bin mies drauf.

Täuschung

Sonntag. Es gibt diese Filme, da wird der Held verfolgt, gehetzt und gejagt von einem oder mehreren Gegnern, bis endlich einer auftaucht, ein Deus ex machina, der helfen könnte und bestimmt auch helfen wird und an den der Gejagte sich von nun an hält.

Hoffnung breitet sich aus, seiner grässlichen Lage doch noch zu entkommen, nicht nur bei dem bedauernswerten Helden, sondern auch beim mitleidenden Zuschauer.

Und plötzlich kippt was in der Geschichte und du merkst, dass du aufs Glatteis geführt worden bist und der Gejagte auch, aber der merkt es (noch) nicht. Der vertraut weiterhin dem vorgeblichen Freund, der in Wahrheit sein allerschlimmster Feind ist, plaudert alles aus und kapiert nicht, dass er sich, blind vor Vertrauen, sein eigenes Grab schaufelt.

Zuerst willst du es nicht wahrhaben: Der einzige Hoffnungsschimmer, der Lebensretter – nichts als eine Täuschung. Das ist das Grauen, das Entsetzliche, das dir nie, niemals im Leben passieren darf.

Und dann passiert es. Eines Tages ist es da, von einem Augenblick auf den anderen.
Und du erkennst: Alles war Täuschung. Dein Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Jede einzelne Minute, Sekunde in den vergangenen eineinhalb Jahren hast du dich getäuscht. Das ist es, was du aus seinem Betrügermund erfahren hast. Das ist die Wahrheit. Eineinhalb Jahre schon hat in Wahrheit niemand dich geliebt und begehrt. Sondern eine andere, die an deine Stelle getreten ist. (Bäumchen, Bäumchen wechsle dich.) Der Plot des schlechtesten Rosamunde-Pilcher-Films – das ist dein Leben! Und die Frage vergiftet dir dein Gehirn: Wie war das denn die neunzehn Jahre davor? Wann ist die Täuschung auf den Plan getreten? Wer ist dieses Phantom, dem du deine verschissene Liebe geschenkt hast?

Es gibt Filme, die sind nicht gut für dein Urvertrauen. Da machst du am besten ganz schnell die Glotze aus.

Von Büchern und Brötchen

Samstag. Auch der Herbst kennt noch schöne Momente, wimmert Jerome im Tonfall einer Achtzigjährigen. Keine Ahnung, wen er da gerade imitiert, klingt aber überzeugend.

Gib mal bitte das Salz rüber, sage ich zu Beret, die mit ihrem Ei schon fertig ist.

Grete, tu mir den Gefallen und iss diesen Stinkekäse auf!

Beret hat einen Brie de Meaux gekauft, der seit Tagen die Luft im Kühlschrank und in der Küche verpestet, und dann festgestellt, dass sie ihn nicht verträgt. Ich verteile ein Stück von diesem würzigen Rohmilchkäse auf einer Brötchenhälfte.

Habt ihr vor, den neuen Hegemann zu lesen?, fragt Beret.

Die Kritik in der FAZ war ja unterirdisch, sagt Jerome.

Nur die erste, von Felicitas von Lovenberg; die am Wochenende darauf war deutlich freundlicher, sage ich. Aber dass von Lovenberg die Hegemann verreißt, war vorhersehbar. Die ist Fan von Charlotte Roche, und Hegemann versucht, Roche vom Thron zu stoßen.

Bidde was? Jerome starrt fassungslos. Das ist ja UNERHÖRT. Kann man denn nicht erwarten, dass eine Kritik objektiv und sachlich ist? Ich meine, was haben die persönlichen Vorlieben von X und Y da zu suchen?

Oje!, sage ich.

Ja, wie jetzt? Jerome guckt kampfbereit: Das ist doch dasselbe, als wenn du – BRÖTCHEN kritisierst. Bei dem einen fehlt Salz, das andere ist zu klietsch, das dritte enthält ranzige Körner – was gibt es denn da groß zu MEINEN?

Ja genau, sagt Beret und guckt auch kampfbereit.

Nee, sage ich. Das ist ganz was anderes.

Ach?

Ja. Brötchen sind nämlich was anderes als Bücher.

Na, das erklären Sie mir mal, Frau Professor Bur-Malottke! Was an Brötchen anders ist als an Büchern. Jetzt sind Sie dran!

Bücher sprechen dich im Herzen an, sage ich. Sie lassen etwas in dir anklingen …

Oder auch nicht! Beret wieder.

Oder auch nicht. Dann hast du aber schon eine Antipathie aufgebaut und bist nicht mehr objektiv. Und anders als beim Brötchen gibt es sowieso keine objektiven Kriterien, was einen guten oder schlechten Roman ausmacht. Roche zum Beispiel spielt mit falscher Grammatik. Sie vermeidet den Tempuswechsel, kennt keinen Konjunktiv, vom Genitiv ganz  …

Also ein schlechtes Buch!, sagt Jerome.

Ist so nicht gesagt! Wenn sie das als Kunstgriff einsetzt, als Stilmittel sozusagen, also bewusst …

So was Albernes, sagt Jerome.

Jetzt heißt es herausfinden, was genau deine Antipathie auslöst, doziere ich. Oder eben deine Sympathie. (Das ist mir echt wichtig. Echte Überzeugungsarbeit. Ich werde das jetzt fulminant aufrollen.) Okay, hebe ich an, beim Brötchentest meinetwegen, da kannst du ganz leidenschaftslos die Zutaten und die Backzeit vergleichen – es sein denn, und jetzt kommt das große ABER: es sein denn, ein Brötchen schafft es, deine Emotionen zu wecken. (Ich bin so was von in Hochform.) Wenn eins von zehn Brötchen dich, sagen wir, an ein ganz bestimmtes Frühstücksszenario mit deiner heißgeliebten Oma erinnert, wirst du dieses eine Brötchen mehr mögen als alle neun anderen. Wegen dem Erinnerungsblitz. Niemand sonst wird dein Kriterium nachvollziehen können, aber dir schmeckt es einfach besser. So ist das mit Büchern auch. Pustekuchen Objektivität! Sobald Gefühle ins Spiel kommen, verhält es sich mit dem Buch genauso wie mit dem Brötchen. Ist aber bei Brötchen eher mal unwahrscheinlich. Bei Büchern dagegen, da werdet ihr mir zustimmen, fast immer.

Schweigen. Jeder ist wieder mit seinem Teller oder mit seiner Kaffeetasse beschäftigt.

Stimmt!, sagt Beret plötzlich. Brötchen sind was anderes als Bücher.

Bidde was? Jerome ist nicht weniger überrascht als ich. Na, ihr seid ja beide so MÖRDERschlau, sagt er. Fast so schlau wie Der Kommissar.

Der Punkt geht an mich.

Krankheiten

Freitag. Oh Goooooooooooooooott! Mein Maaagen!
Klingt wie der Heilige Stuhl, ist aber Jerome, der ziemlich viel Trüffelschokolade gegessen hat.
Wir lesen alle drei die FAZ, diskutieren einen Artikel, der Die Potemkinisierung der deutschen Universität heißt und davon handelt, dass wegen der permanent abverlangten Selbstdarstellung die Professoren in den Produktionsmodus der Unerheblichkeit gezwungen werden. Ich lasse mir das auf der Zunge zergehen. Jerome findet die Formulierung gedrechselt und h.g.g. (hochgradig gestört), Beret stimmt ihm zu.
Na ja, sage ich, darauf musst du erstmal kommen …
Die beiden gucken mich mitleidig an: Also, ICH muss das nicht, sagt einer von beiden, oder vielleicht sagen es auch beide.
Stimmt, denke ich. Die können das einfach bloß so lesen. Wollen nichts zerlegen, nichts infrage stellen, nichts bunkern für klammheimliches Textrecycling. Kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Lesen ist für mich immer irgendwie gleichzeitig auch schreiben.
Für alle Fälle schneide ich den Artikel mal aus.
Das Telefon klingelt. Keiner geht dran, bis Jerome es sich mit Blick aufs Display anders überlegt und schnell abhebt. Es ist sein Privat-Doc. Will wissen, was die Schmerzen in der Niere machen, die Jerome seit Wochen plagen. Er empfiehlt ein anderes Antibiotikum. Er solle das ausprobieren, bei seinem Krankheitsbild reagieren die Medikamente anders als sonst, fasst Jerome das Gespräch für uns zusammen.
Grete, wenn du da bist, esse ich immer so viel.
Kann ich was dafür?
Ja, weil Beret dann so Sachen hinstellt. Schokolade und Kekse und Lakritze und Nüsse und so. Mephisto-Beret!
Klingt lustig, aber irgendwie auch gereizt, nervös.
Nech?, schiebt er nach, und das klingt auch gereizt und nervös.
Du brauchst das bloß liegen zu lassen, sagt Beret und schiebt sich Lakritze in den Mund.
Jerome tastet vorsichtig auf seinem Magen herum. Er kann heute wieder sehr schlecht laufen, durch die Nierenentzündung ist sein Immunsystem irritiert, was sich direkt auf Nerven und Muskeln auswirkt. Ich wüsste gerne, welcher Körperteil ihm eigentlich nicht weh tut. Trotz Schmerztabletten, Schmerzpflaster, Kortison und jetzt eben noch Antibiotika. Er will kein Mitleid. Aber er ist doch mein Lieblingsvetter und mein liebster Freund. Da hat man halt solche Gefühle, Mann!

Ein Tag in Bremen

Samstag. Wenn du dir die Hände gewaschen hast, darfst du das auch anfassen!, sagt Friedrich. Und, nachdem ich meine Hände unter seinen Augen gefühlte zwei Stunden lang im fließenden Wasser abgespült habe: Welches Handtuch du benutzt, ist egal, deine Hände sind ja jetzt sauber.
Kaum verbergen können diese kunstvoll verschlüsselten, geradezu beschwörerischen Formeln seine Not. Unklar ist, wen er mehr beschwören möchte: Mich, doch bitte gründlich zu sein, oder sich selbst, locker zu bleiben. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und gesagt: Ich weiß doch Bescheid, mein Lieber, mach dir mal keine Sorgen.
Friedrich ist nervös, weil ich plötzlich leibhaftig in seiner Wohnung stehe. Na gut, eigentlich ist er seit Wochen darauf vorbereitet, aber nun geht es doch alles viel zu schnell, und dass ich wirklich von Kiel hierher und vom Bremer Hauptbahnhof mit der Straßenbahn Linie 4 und dann bis in sein Viertel – unfassbar!

Er hat die Nudeln vorgekocht. Dazu gibt er Tomaten- und Zwiebelstückchen in die Pfanne, und ich staune, wie fein er das Gemüse schneidet. Er mache das genauso, wenn er alleine sei, sagt er, und darüber staune ich dann noch mehr. Kochen nur für mich habe ich mir abgewöhnt. Das Einkaufen auch, aber das ist eine andere Geschichte. Zuletzt wird Feta darüber gebröselt, allein vom Duft bekomme ich Hunger.
Ich schlendere durch seine kleine, erst kürzlich bezogene Wohnung. Manches erkenne ich wieder: Die vielen Bücher, ordentlich aufgereiht, viele noch in Originalfolie eingeschweißt. So mag er sie am liebsten. Seine schwarzen Stühle im Thonet-Stil. Sein Küchenbüffet. Das ist aber hoch. Und der Herd auch. Irgendwie alles höher als normal. Steht ja auch alles auf Rollen! Sogar unter Spüle und Waschmaschine sitzt ein Rollbrett.
Zum besseren Beiseiteschieben, erläutert Friedrich, hab‘ ich selber gebaut.
Ich greife mit beiden Armen um seinen Kleiderschrank: Leichtfüßig gleitet der Sechstürer vor und wieder zurück. Ich verstehe sofort: So lässt es sich besser putzen. Ich bin beeindruckt. Auch ich hab’s mit dem Putzen und Aufräumen, nicht nur wegen der produktiven Gedanken, die sich dabei einstellen, sondern weil es kein wirksameres Mittel gegen das innere Chaos gibt, eine Sache, die schon im Tonio Kröger thematisiert wird, wodurch mir eines der seltenen Aha-Erlebnisse meiner Schulzeit beschert wurde.
Das Essen ist fertig und schmeckt. Friedrich sagt: Seit einem Jahr verzichte ich auf Kaffee, Alkohol, Zucker und Fleisch. Zu hundert Prozent. Seitdem kann ich mich wieder besser bewegen.
Was bedeutet das hier?, frage ich, weil Fastenthemen mich noch nie interessiert haben, und zeige auf die beiden Teebecher, beziehungsweise auf die russischen Buchstaben darauf.
Mirnuji, liest Friedrich: Die Becher hab ich geschenkt bekommen, als ich eine Reportage darüber gemacht habe. Mirnuji heißt irgendwas mit Frieden. Ist aber gelogen. Mirnuji, musst du wissen, ist ein total geheimer, russischer Raketenstartplatz, größer als Cape Canavaral und sogar größer als Baikonur. Ich war der erste westliche Reporter, der da rein dürfte. Der Nachbarort heißt übrigens Plesetzk.
In Erinnerung an die Zugreise quer durch Russland gerät Friedrich ins Schwärmen. Vor allem, was die Begleiterin oder Dolmetscherin oder Aufpasserin angeht, je nachdem, wie man ihre Rolle interpretiert: So groß wie ein Baum ist die gewesen, mein Gesicht immerzu in Höhe ihres Busens. Kannst du dir das vorstellen? Und wir beide in einem Schlafwagenabteil ganz für uns allein!
Nein, eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Friedrich ist klein und fast zerbrechlich, was fängt er mit einer baumhohen Frau an? Er erzählt auch von dem russischen Speisewagen, wo es exakt zwei Dinge zu kaufen gegeben habe: Bier und Brot. Darauf genehmigt er sich noch einmal einen Schlag aus der Pfanne, und ich will auch noch einen.
Wir kommen auf sein Buch, sein Lebenswerk, zu sprechen.
Lies drei Sätze, fordert Friedrich mich auf. Er führt mich zu seinem Schreibtisch, auf dem das kiloschwere Manuskript liegt, und hält mir Zettel und Stift hin, während ich vor dem Meisterwerk Platz nehme.
Irgendwelche, aber nur drei! Und sag mir dann, ob sie lesbar sind.
Ich kenne das, diese Sehnsucht nach einem Echo, einem Urteil. Lieber ein negatives als gar keins. Man hat so lange geschrieben und ist so lange allein gewesen. Jetzt nur ein Wort! Am besten von einem relevanten Leser. Wobei in diesem sehr heiklen Augenblick fast jeder Leser relevant wird.
(Ist doch gut so, sagte M., wenn ich ihm nach einer durchgeschriebenen Nacht eine Seite hingehalten und er sie überflogen hatte.) Ich sage natürlich nicht, dass es gut so sei, denn dass dieses Werk gut oder sehr gut oder sogar fulminant ist, weiß Friedrich selbst.
Ist sehr schwer zu lesen, sage ich statt dessen. Ich bin schon voll im Korrekturmodus: Man kommt sehr schwer rein. Drei Genitive in einem Satz – Hallo!, das ist ja schon die höhere Schreibkunst, Leistungskurs Deutsch, wie? Maximal einer pro Satz!, ist meine Devise. Hier: statt Werke der Kunst des 19. Jahrhunderts schreib doch einfach Kunstwerke des 19. Jahrhunderts!
Friedrich sieht mich lange an. Er springt auf, schlägt eine andere Seite in der Mitte des Manuskripts auf und sagt: Lies das, darauf bin ich richtig stolz.
Wirklich ist die Lesbarkeit dieser Passage um einiges besser. Inhaltlich dagegen verstehe ich nur Bahnhof. Ich muss aufpassen, dass ich die Schuld daran nicht mir zuschiebe.
Ich sage: Dyade, kenn ich nicht, ist aber wohl nicht so wichtig, oder? Und lese weiter: Dyade, und drei Zeilen später schon wieder: Dyade. Okay, was ist Dyade?
Friedrich schüttet sich aus vor Lachen, er kann es kaum fassen: Du weißt nicht, was Dyade ist? Du weißt es wirklich nicht? Dyade, das ist die Mutter-Kind-Beziehung!
Dein ganzer Text, sage ich, um Sachlichkeit bemüht: Dein ganzer Text hört sich für mich an wie von einem, der schon zum Frühstück Kant liest.
Friedrich reißt die Augen auf: Ja!, ruft er. Ich lese zum Frühstück Kant.
Weiß ich, sage ich. Eben. Und ich lese zum Frühstück das Schwäbische Tagblatt. Das ist der Unterschied. Deshalb brauche ich so lange für Texte wie diesen hier.
Inzwischen habe ich sieben Seiten gelesen und nichts notiert.
Was du sagst, ist für mich sehr interessant, sagt Friedrich.
Wieso?, frage ich beunruhigt. Du hast doch schon einen Gutachter, du hast eine Lektorin. Du hast schon ABGEGEBEN. Du bist fertig. Wozu brauchst du noch mein Urteil?
Wegen der Lesbarkeit, sagt er. Das ist mein Schwachpunkt.
Friedrich! Du willst nicht noch mal umschreiben. Sag, dass das nicht wahr ist.
Darüber reden wir später, meint Friedrich mit nachsichtigem Lächeln.

Die Zeit ist um, wir müssen zur Straßenbahn. Wir müssen sogar rennen. An der Haltestelle steht ein Typ mit Fahrrad und in Radklamotten. Er studiert den Fahrplan, geistesabwesend fragt er Friedrich nach einem Stift.
Nein!, sagt Friedrich, und klopft auf die zwei Fineliner, deren Kappen gut sichtbar aus seiner Brusttasche ragen. Die verleihe ich nicht, nicht mal meinen Kindern. Sie gehen zu schnell kaputt.
Ist ja gut, sagt der Radfahrer und guckt verärgert weg.
Ich will vermitteln (bescheuerte Angewohnheit) und biete ihm meinen Lippenstift an.
Der Radfahrer starrt mich entgeistert an.
Sie können damit auf Ihren Unterarm schreiben, sage ich.
Was glauben Sie, was dann los ist!, ruft der Typ und hebt sein schreckerfülltes Gesicht zum Himmel: Mit fremdem Lippenstift nach Hause kommen! Pah! Was da los wäre. Fremder Lippenstift! Er kriegt sich gar nicht mehr ein bei der Vorstellung.
Seine Aufregung belustigt mich, auch Friedrich schmunzelt. Friedrich ist schon ewig Single, ich seit neuestem auch. Niemand würde uns blöd kommen, wenn wir mit Lippenstiftspuren nach Hause kämen, weder im direkten noch im übertragenen Sinn. Das ist eigentlich traurig. Bevor ich melancholisch werde, kommt die Straßenbahn. Friedrich zieht ein Ticket. Ich kratze unauffällig an meinen Zähnen, weil ein Stück Tomatenschale dazwischen sitzt. Verdammt, er hat es gesehen!
Angeekelt verzieht er das Gesicht, obwohl er versucht, es nicht zu zeigen. Aber ich kenne ihn schon zu lange. Friedrich ist mein ältester Freund. Demonstrativ putze ich meinen Finger an einem blütenweißen Tempotaschentuch ab. Das ist das Mindeste, was ich in der Situation für ihn tun kann. Ich habe viel Verständnis für seine Spleens. Mehr als er selber. Mehr als für meine eigenen.

*

Zu Tränen rührt mich jedesmal die SchlussSzene von Secretary: Die beiden Protagonisten ziehen gemeinsam ihr Laken glatt. Das ist ein ernstes Ritual, und sie setzen superernste Mienen dafür auf. Gerade als er/James Spader sich umdreht, legt sie/Maggie Gyllenhaal eine Fliege auf sein Kopfkissen. Ein klitzekleines Lächeln umspielt ihren rot geschminkten Mund, und man ahnt, welchen Sturm diese Fliege bei ihm auslösen wird. Man ahnt aber auch, wie wichtig der Tabubruch für ihn ist, man ahnt, was sie da gerade für ihn tut. Die Szene ist voller Zartheit, voller Liebe. Voller Verständnis für Menschen mit Seltsamkeiten, für Grenzgänger. Diese Szene ist zum Niederknien schön.

Mutterkommentar

Donnerstag. Heute Mittag habe ich ein Telefoninterview mit der freundin!, brülle ich in den Hörer.
Seit mein Vater gestorben ist, rufe ich meine Mutter täglich an, da kann einem der Gesprächsstoff schon mal ausgehen. Aber jetzt habe ich was zu erzählen.
Die freundin kenne ich vom Friseur!, sagt sie.
Ja, sage ich.
Und wann kommen die bei dir vorbei?
Die kommen gar nicht. Das ist ein Telefoninterview!, brülle ich und sehe durch den Hörer die Enttäuschung das Gesicht meiner Mutter lang ziehen.
Am Telefon?
Ja.
Das ist ja seltsam. Das kenne ich nicht. Und was soll dabei herauskommen?